Überfüllte Wartsäle, genervte Patienten, angespannt Atmosphäre: Alltag beim Hausarzt. 1500 Patienten sind der Durchschnitt. Und alle wollen individuell behandelt werden. Und dies bei immer mehr älteren und kranken Menschen; mit Patienten, die ihrem Netdoktor manchmal mehr glauben als dem Vertrauensarzt. Wen wundert’s, dass der Nachwuchs fehlt.
Er kannte seine Patienten ein Leben lang und die ihn auch. Der Hausarzt war für seine Patienten da, er hatte ein Ohr für ihre Probleme. Früher war er das Rückgrat des Gesundheitswesens. 60 % der Mediziner arbeiteten als Hausärzte, 40 % als Fachärzte. Das galt als gute Mischung für ein funktionierendes Gesundheitssystem. Heute hat sich das Verhältnis umgedreht. Die ambulante Versorgung findet in Italien primär beim so genannten Basis- oder Hausarzt statt, der entweder Allgemeinmediziner oder Kinderarzt ist.
Jeder Bürger schreibt sich bei einem Hausarzt in eine Liste ein, die rund 1500 Patienten umfassen kann. Die meisten Hausärzte sind in einer Einzelpraxis niedergelassen, nur ca. 5 % sind in Gruppenpraxen organisiert. In einem Jahr hat ein Hausarzt mindestens einen Kontakt mit 80 % seiner eingeschriebenen Patienten. Im Durchschnitt sucht ein Bürger seinen Hausarzt 6- bis 10-mal im Jahr auf.
Auslaufmodell Hausarzt?
280 Hausärzte gibt es in Südtirol, das sind heute schon 70 zu wenig. Tendenz weiter sinkend. Laut Berechnungen der Südtiroler Ärztekammer werden in den kommenden zehn Jahren mindestens 107 der insgesamt 280 Hausärzte in Rente gehen. Ein massiver Abgang, der mit dem Nachwuchs kaum auszugleichen sein wird. Denn der Beliebtheitsgrad des Berufsbildes Hausarzt ist unter Medizinstudenten klar gesunken – die Facharztausbildungen locken mit besserer Bezahlung und höherem Image. Nur noch 10 % der Medizinstudenten entscheiden sich für eine Weiterbildung zum Allgemeinmediziner. Uninteressant, langweilig, was für die Dummen, lauten die Begründungen. Das Image des Hausarztes unter den Nachwuchsmedizinern ist schlecht: Er verdient wenig, ist ein Einzelkämpfer, muss ständig verfügbar sein. Das alles passt nicht zu ihren Berufsvorstellungen.
Unternehmen Hausarzt
Vielleicht sind die jungen Ärzte heute auch ängstlicher als früher. Eine Praxis muss sich rentieren, ein Arzt ist ein kleiner Unternehmer mit Angestellten. Viele Berufseinsteiger wollen sich nicht gleich zu Beginn ihrer Karriere so viel Verantwortung aufladen. Sie wollen sich um ihre Patienten kümmern und nicht um Bürokratie und Betriebswirtschaft. Und auch die Patienten haben sich gewandelt. Wer früher einen Hausarzt erwählt hatte, blieb ihm sein Leben lang treu. Heute sehen viele Patienten in Ärzten zunehmend Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen, deren Leistung sie in Onlineportalen öffentlich bewerten wie Hotels oder Kneipen. Innerhalb 2023 werden in Italien rund 21.700 Allgemeinmediziner in Pension gehen. Bis dahin dürften laut der Pensionsversicherungsanstalt ENPAM 16.000 Hausärzte fehlen. Bleiben die durchschnittlichen Patientenzahlen pro Allgemeinmediziner aber unverändert, so wird einer oder eine von drei Italienern im Jahr 2023 keinen Hausarzt mehr haben. Die Krise betrifft ganz Europa. Die Gesundheitsversorgung vor Ort ist keineswegs mehr gesichert. Es droht tatsächlich eine Lücke, die umso schwerwiegender sein wird, als die Aufgaben der Allgemeinmediziner ständig wachsen. Patienten sollten vorsorgend betreut werden, im Rahmen der anstehenden Reform des Territoriums soll ein achtstündiger Dienst der Basisärzte garantiert werden, um vor allem das akute Problem der überfüllten Erste Hilfe in den Krankenhäusern zu lösen.
Allgemeinmedizin aufwerten
Mit Geld allein wird sich das Problem nicht lösen lassen. Ein Hausarzt sollte zwar zumindest annähernd so viel verdienen wie ein durchschnittlicher Krankenhausarzt. Die eigentlichen Ursachen für den Hausärztemangel liegen aber tiefer. Das fängt schon mit der Auswahl der künftigen Mediziner an. Wer Ärzte will, die sich gern um ihre Patienten kümmern und Zeit für sie haben, darf bei der Auswahl nicht nur auf Schulnoten achten. Es geht auch um die Motivation und die Bereitschaft, anderen Menschen helfen zu wollen. Diese Kriterien kommen bei der Studienplatzvergabe aber immer noch zu kurz. Im Studium geht es dann weiter: Die Allgemeinmedizin führt an vielen Universitäten ein Stiefmütterchendasein. Lehrstühle für Allgemeinmedizin sind rar. Nicht ohne Grund fordert Lukas Raffl, Chef der Kommunikationsabteilung des Südtiroler Sanitätsbetriebes SABES, dass die Ausbildung verstärkt an den Erfordernissen der allgemeinmedizinischen Betreuung ausgerichtet werden muss. Allgemeinmedizinische Inhalte müssen wieder über das gesamte Medizinstudium vermittelt werden. Doch selbst wenn es gelingt, mehr Mediziner für den Hausarzt zu begeistern – alle Lücken werden sich nicht füllen lassen. Die Strukturen werden sich ändern müssen: Krankenhäuser werden künftig Patienten nicht nur stationär, sondern zunehmend auch ambulant behandeln, wo es an niedergelassenen Ärzten fehlt. Zunehmen werden auch Gemeinschaftspraxen, lokale Gesundheitszentren und medizinische Versorgungszentren – erklärtermaßen wollen die jungen Mediziner nicht als Einzelkämpfer, sondern im Team arbeiten. Die wenigen Ärzte werden auch nicht mehr alles machen können so wie heute. Delegation und Substitution heißen die Stichworte. „Allgemeinmediziner werden sich stärker vernetzen, vom Einzelkämpfer zum Teamplayer werden“, sagt Raffl. „Sie werden in Gemeinschaftspraxen oder gar medizinischen Versorgungszentren arbeiten, in denen Haus- und Fachärzte gemeinsam und in enger Zusammenarbeit mit andere Gesundheitsberufen ein hochwertiges Angebot erbringen“, lautet die Vision. Die Digitalisierung wird einiges erleichtern, auch wenn heute noch viele den e-Health-Möglichkeiten skeptisch gegenüberstehen. In Deutschland gibt es zum Beispiel schon Online-Videosprechstunden. Die Telemedizin wird laut Raffl auf kurz oder lang aber in unseren Alltag Einzug halten.
„MAN MUSS DIE MENSCHEN SCHON MÖGEN“
Peter Grüner arbeitet seit über 20 Jahren als Hausarzt in Schenna. Er kennt seine Patienten, ist engagiert. Grüner hat im Arztberuf seine Leidenschaft gefunden. Trotz vieler Probleme und Belastungen. Ein Gespräch mit ihm.
BAZ: Herr Dr. Grüner, wie geht es Ihnen als Hausarzt?
Dr. Peter Grüner: Ich bin auch nach 20 Jahren noch immer gerne Hausarzt. Das Besondere an meinem Beruf ist der enge, jahrelange Kontakt mit den Menschen. Ich habe darin beruflich meine Berufung gefunden
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus?
Ich verbringe 5 bis 6 Stunden am Tag als Sprechstunde in der Praxis. Der restliche Arbeitstag ist gefüllt mit Hausbesuchen, Patienten orientierten Projekten, bürokratischen und organisatorischen Dingen. Und nicht zu vergessen ist die telefonische Erreichbarkeit über 24 Stunden am Tag.
Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, nur mehr Fließbandarbeit zu leisten und nur Rezepte zu verschreiben?
Natürlich ist vieles an meiner Arbeit „Fließbandarbeit“ (Rezepte, ärztliche Bestätigungen schreiben usw.) Und es ist eine Tatsache, dass die Bürokratie bei uns Hausärzten überhandgenommen hat. Unsere eigentliche Arbeit, die gesundheitliche Betreuung, wird dadurch erschwert. Ich habe es aber mit Menschen zu tun, die ein Anliegen haben, und ich bemühe mich, ein offenes Ohr für diese zu bewahren. Das schützt davor, in die Routine abzudriften. Das große Problem dabei ist, dass oft die Zeit fehlt.
Sind die Patienten in Zeiten von Google und Netdoktor schwieriger geworden?
Schwieriger nicht unbedingt, aber anspruchsvoller. Das „Diagnose-stellen und Pille-verschreiben-System“ ist nicht mehr ausreichend. Die Menschen sind heute viel besser informiert. Das macht es nötig, mit dem aufgeklärten Patienten ins Gespräch zu kommen, um in einer guten Arzt-Patienten-Kommunikation zu einer Entscheidung zu kommen. Das ist nicht immer schwieriger, aber auf jeden Fall zeitaufwendiger.
In letzter Zeit kam es immer wieder zu lautstarken Protesten der Hausärzte. Können Sie uns die Gründe dafür nennen?
Am Anfang standen wohl die schleppenden Vertragsverhandlungen vor über zwei Jahren. Eine Hausärztegewerkschaft hat daraufhin einen gerichtlichen Rekurs gegen das Land angestrengt und recht bekommen. Die Folge war, dass damit der bis dahin geltende provinziale Arbeitsvertrag nichtig geworden und der nationale Basisvertrag in Kraft getreten ist. Dieser Vertrag wird dann üblicherweise von den verschiedenen Regionen Italiens entsprechend den jeweiligen Notwendigkeiten ergänzt. Die Verhandlungen zu diesem Zusatzvertrag haben sich dann aber über zwei Jahre mit rund 60 Sitzungen hingezogen. Jetzt scheint aber dieser Zusatzvertrag endlich unter Dach und Fach zu sein.
Experten warnen davor, dass wir in den nächsten Jahrzehnten immer weniger Basisärzte vor Ort haben werden. Sehen Sie diesen Trend auch?
Ja. Die Gründe für den zunehmenden Hausärztemangel sind vielfältig. Der Beruf des Hausarztes bringt eine hohe Wochenarbeitszeit mit sich. Der Hausarzt wird oft auch als „Einzelkämpfer“ gesehen, der ständig erreichbar sein muss. Beruf, Familie und Freizeit sind damit schwer vereinbar. Der Hausarzt ist ein kleiner Unternehmer und muss sich um alles selber kümmern. Der Verdienst ist in den letzten Jahrzehnten auch gesunken. Wahrscheinlich besteht auch ein Image-Problem: der Hausarzt ist ein Arzt für Allgemeines; der Spezialist, das ist ein Spezialist für etwas, das ist was Tolles!
Welche Maßnahmen müssten dagegen ergriffen werden?
Es müsste schon das Medizinstudium umgestaltet und die Allgemeinmedizin in der Ausbildung wichtiger werden. Es gehörten Pflichtpraktika von Medizinstudenten bei Allgemeinmedizinern eingeführt, um diese Arbeit überhaupt einmal kennenzulernen. Man könnte Studienplätze reservieren für die, die sich dann verpflichten, für eine bestimmte Zeit danach in ein Gebiet zu gehen, wo Ärzte benötigt werden. Bei einem immer höheren Frauenanteil im Medizinstudium spielt die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine immer wichtigere Rolle. Dieser Tatsache muss mehr Rechnung getragen werden durch neue Arbeitszeitmodelle, attraktive Regelungen von Familien/Kinderzeit, Gemeinschaftspraxen usw. Man könnte Anreize schaffen für die Ansiedelung von Hausärzten, nicht nur finanzielle, sondern auch organisatorische (Hilfe bei der Wohnungs- und Praxissuche, Beiträge für Leistungen, günstige Darlehen). Bis vor zwei Jahren wurde in Südtirol die Organisation von Gemeinschaftspraxen noch finanziell gefördert. Leider wurde diese Förderung abgeschafft. Und es müsste Konkretes für den Bürokratieabbau getan werden.
Erklären Sie uns doch mal, wie sich das Gehalt eines Hausarztes zusammensetzt.
Der Hausarzt bekommt in Südtirol eine so genannte „Kopf-Quote“, d. h. einen fixen Betrag für jeden eingeschriebenen Patienten, unabhängig davon, wie oft derselbe den Arzt in Anspruch nimmt. Es gibt zusätzlich vergütete Leistungen (z.B. eine Wundnaht, die Betreuung komplexer Patienten zuhause), Zulagen wie die Zweisprachigkeit, Honorierungen bei der Teilnahme an speziellen Projekten und Zielvorhaben. Als Unternehmer muss er aber auch für eine Reihe von Spesen aufkommen (Praxismiete, Gebrauchsmaterial, Sprechstundenhilfe, Steuerberater usw.) Die in den Medien immer wieder genannten Verdienste sind Brutto- und nicht Nettoverdienste.
Wie sehen Sie die Zukunft der Hausärzte?
Ich bin besorgt. Es gibt immer weniger Hausärzte. Die Ressourcen für die Allgemeinmedizin sind begrenzt. Dinge, die für mich bei meiner Berufswahl wichtig waren, wie der Kontakt mit den Patienten, Geduld, Menschlichkeit, Vertrauen, sind wegen der hohen Arbeitsbelastung und der mangelnden Zeit zunehmend schwer umsetzbar; neue Arbeitsmodelle wie eHealth, Televisite fördern eine Entpersönlichung der Arzt-Patient-Beziehung. Ich habe Sorge, dass die Hausarzttätigkeit zum reinen Dienstleistungsbetrieb verkommt, der wie ein Automat Leistungen hervor spuckt, ohne Herz und Seele.
von Josef Prantl