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Südtirol 1919

Wer sind wir Südtiroler?

Am 20. April 1945 fällt Josef Prantl in Feltre. Er erliegt einem Bauchschuss aus dem Hinterhalt eines italienischen Partisanen. Ich trage seinen Namen. Im September 1944 war mein Onkel zu einem der 4 Polizeiregimenter eingezogen worden, die in der sogenannten „Operationszone Alpenvorland“ nach der Besetzung Italiens durch die Nazis im September 1943 aufgestellt worden waren.

Josef Prantl war der Älteste der drei „Oberhebsacker“-Brüder. Die Nachricht von seinem Tod – zu Weihnachten 1944 war er noch auf Heimatbesuch – hinterließ Spuren in der Algunder Bauernfamilie. Trotz allem – in meiner Familie war nie eine negative, geschweige denn gehässige Einstellung gegenüber den „Italienern“ zu spüren. Im Gegenteil, mein Vater lehnte zeitlebens Nationalismus und übertriebenen Patriotismus ab. Dabei hätte gerade er Grund gehabt, nichts Gutes am italienischen Staat, zu dem Südtirol 1920 offiziell geschlagen wurde, zu lassen. Vor genau 100 Jahren, am 10. September 1919, war die österreichische Delegation in St. Germain bei Paris gezwungen, den Friedensvertrag, den England, Italien, Frankreich und die USA nach vier grausamen Kriegsjahren diktierten, zu unterschreiben. Er sah die Abtrennung Südtirols an Italien durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs vor. Der Schock war groß, lähmendes Entsetzen machte sich in Südtirol breit. Auch der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bejahte die Ansprüche Italiens, obwohl sie im Widerspruch zu seinen im Jänner 1918 aufgestellten 14 Punkten standen. Dabei hatte gerade auf ihm alle Hoffnung der Südtiroler Bevölkerung geruht, hieß es doch im 9. Punkt: „Berichtigung der Grenzen Italiens nach den genau erkennbaren Abgrenzungen der Volksangehörigkeit“. Mehrere Gründe sprechen dafür, dass Wilson bereits im April 1919 Südtirol offiziell dem Königreich Italien zusprach. Da war einmal die Nichterfüllung des Londoner Geheimvertrags von 1915. Von den ursprünglichen Versprechungen der Alliierten an Italien in Südosteuropa erhielt es nur Friaul, Istrien und Triest, nicht aber Dalmatien und Teile Albaniens. Um so mehr versteifte es sich auf den Rest der Kriegsbeute, allen voran Südtirol. Noch schlimmer waren die Bestrebungen Deutsch-Österreichs, sich dem Deutschen Reich anzuschließen. Ein großdeutsches Reich bis zur Salurner Klause wirkte für die Siegermächte allzu bedrohlich.

Die Großen Vier entscheiden über das Schicksal Südtirols: v. l.: David Lloyd George, Vittorio Emanuele Orlando,
Georges Clemenceau und Woodrow Wilson

Die Sozialisten sind gegen die Angliederung
Aber nicht alle waren in Italien mit der neuen Grenzziehung am Brenner und Reschen einverstanden. So war es der Sozialistenchef Filippo Turati, der am 14. Juli 1919 im Parlament eine Petition von 172 Gemeinden Südtirols vorlegte, in der sich diese gegen eine Angliederung ihres Landes an Italien aussprachen.
Auch der reformsozialistische Minister Leonida Bissolati sprach sich dezidiert gegen die Angliederung von Territorien „mit fremdnationaler Bevölkerung“ aus. Als er mit diesem Grundsatz nicht durchkam, legte er Ende 1918 seine Ämter nieder. Die nationalistischen Kräfte hatten im Nachkriegs-Italien aber eindeutig die Oberhand und so trat am 10. Oktober 1920 das Annexionsdekret in Kraft: Südtirol war Teil des Königreichs Italien. „Wir Südtiroler haben die unerschütterliche Hoffnung, dass der Tag kommen wird, an welchem uns Gerechtigkeit und weitschauende Politik die nationale Befreiung bringen werden“, zitieren die „Bozner Nachrichten” vom 10. Oktober 1920 die drei Südtiroler Parteien auf der Titelseite.

Kampf um Autonomie
Einzig eine Autonomie für das deutschsprachige Gebiet sah der Friedensvertrag von St. Germain vor. Unter dem Ministerpräsidenten Francesco Saverio Nitti schien dies auch mög­lich. Allerdings sprachen sich die Trientner Volksvertreter unter Führung von Alcide De Gasperi gegen eine Sonderautonomie für Südtirol bei den Verhandlungen in Rom aus. Die Südtiroler Delegation unter Führung von Eduard Reut-Nicolussi kämpfte hingegen um eine weitestgehende Selbstverwaltung. Dabei trat man, im Bewusstsein eigentlich Unrecht erlitten zu haben, nicht als Bittsteller auf, sondern stellte einen Autonomieentwurf vor, der Südtirol fast zu einem Staat im Staate machen sollte. Die Verhandlungen führten so zu keinem Ergebnis und versandeten, als 1920 dann auch noch der autonomiefreundliche Nitti vom zentralistischen Giovanni Giolitti als Ministerpräsident ersetzt wurde. Somit waren alle Hoffnungen auf eine Autonomie endgültig begraben.

Die Einheitsprovinz Venezia Tridentina
Nicht einmal das Mindestmaß an Eigenständigkeit wurde den Südtirolern zugestanden. So kam es auch nicht zur Gründung einer eigenen Provinz, wie von den Sozialisten gefordert, sondern zum Zusammenschluss mit dem Trentino zur Einheitsprovinz „Venezia Tridentina“. An deren Spitze stand seit November 1922 Präfekt Giuseppe Guadagnini. Schon die Bezeichnung „Venezia Tridentina“ anstelle von „Trentino/Südtirol“ ließ nichts Gutes ahnen. „Wir leben nicht in einer Venezia Tridentina, die wir nicht kennen, sondern in Südtirol“, schreibt die „Meraner Zeitung“ am 29. März 1921. Die folgenden Jahre gestalteten sich für die Südtiroler immer schwieriger. Der italienische Einmarsch nach Kriegsende war zwar friedlich verlaufen, auch wenn die Besatzungssoldaten überrascht waren, nördlich der Salurner Klause eine deutschsprachige Bevölkerung anzutreffen und nicht mit Begeisterung wie im Trentino aufgenommen zu werden. Bis Mitte 1919 unterstand Südtirol einer Militärregierung unter General Guglielmo Pecori-Giraldi. Brenner und Reschen waren unpassierbar, Kontakte nach Österreich und zu den ehemaligen Gegnern streng verboten. Die Presse war einer strengen Zensur unterworfen. Die Militärverwaltung verhielt sich aber sehr umsichtig. Alle Verordnungen wurden zweisprachig verfasst, Pecori-Giraldi versprach den „Staatsangehörigen anderer Sprache eigene Schulen, eigene Bildungseinrichtungen und Vereine“. In seiner Proklamation vom 18. November 1918 schreibt er sogar von „Gerechtigkeit und Liebe“, die den „Staatsangehörigen fremder Zunge“ zukommen soll und wünscht sich „brüderliche Beziehungen“ zwischen den Volksgruppen. Ganz anders sah das Ettore Tolomei, der mit dem General im Dauerstreit stand. Während Pecori-Giraldi die deutschen Ortsnamen bewusst verwendete, gab es für Tolomei nur ein italienisches Alto Adige. Vorerst konnte er sich damit noch nicht durchsetzen. Seine Zeit sollte aber bald schon kommen. Im Juli 1919 wurde die Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung ersetzt. Der Liberale Luigi Cedaro wurde als Generalvizekommissar oberster Verwalter der Venezia Tridentina. Schon unter ihm kam es zu ersten Na­tio­nalisierungsmaßnahmen. So setzte er 1920 den Bürgermeister von Obermais, Alois Hölzl ab, als dieser sich kritisch zum Eid auf Italien und den König äußerte. Die Spannung im Lande stieg, auch wenn die Giolitti-Regierung „neue Konflikte und schädliche Unruhen“ zu vermeiden suchte. Für die Südtiroler Bevölkerung war Luigi Cedaro (er war Unterrichtsminister gewesen) eine Bedrohung für das Volkstum, für die erstarkenden Faschisten ging er zu gemäßigt vor. Sie warfen ihn schließlich 1922 aus seinem Amtssitz.

Der Marlinger Lehrer Franz Innerhofer wurde 1921 von Faschisten ermordet

Die ersten Parlamentswahlen und der Bozner Blutsonntag
Am 15. Mai 1921 fanden zum ersten Mal in Südtirol Wahlen zum italienischen Parlament statt. Der Deutsche Verband, ein Zusammenschluss von Deutschfreiheitlichen und Tiroler Volkspartei mit dem Edelweiß als Listenzeichen, erzielte 4 Mandate, die Sozialdemokraten mit 9,5 % der Wählerstimmen keines. Die ersten Südtiroler Vertreter im römischen Parlament waren der Rechtsanwalt Eduard Reut-Nicolussi, Friedrich Graf von Toggenburg, der Schlanderser Rechtsanwalt Karl Tinzl und der Bozner Wilhelm von Walther.
Die Richtung, die Italien in den kommenden Jahren einschlagen wird, wurde allerdings bereits am 24. April in Bozen deutlich. Hunderte schwer bewaffnete Faschisten überfielen den Trachtenumzug anlässlich der Eröffnung der Mustermesse. Der Marlinger Lehrer Franz Innerhofer wurde dabei rücklings erschossen und rund 50 Südtiroler wurden zum Teil schwer verletzt. Der Tag ist als Bozner Blutsonntag in die Geschichte eingegangen. Als Generalprobe für den Marsch auf Rom gilt die Besetzung des Bozner Rathauses durch faschistische „Squadre“ am 1. Oktober 1922. Wenige Wochen später, am 28. Oktober, wird Benito Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt. Der liberale Staat hatte vor dem Faschismus kapituliert.

General Guglielmo Pecori-Giraldi machte den Südtirolern viele Versprechungen

Die Geschichte im Schnelldurchlauf
Die Jahrzehnte unter dem Faschismus waren für die Südtiroler geprägt von Unterdrückung und schwerer Benachteiligung. Die massive italienische Zuwanderung sollte Südtirol zu einer mehrsprachig italienischen Provinz machen. Tiefpunkt war schließlich das Berliner Abkommen von 1939 zwischen Hitler und Mussolini, das die Südtirolfrage endgültig lösen sollte. Bereits nach dem Abschluss des Stahlpakts hatten sich die zwei Diktatoren auf die Aussiedlung der Südtiroler geeinigt. Man ermöglichte ihnen zwar die Wahl, über deren Ausgang aber bei der antiitalienischen Stimmung und Begeisterung für das erstarkte Deutschland kaum Zweifel bestehen konnten. Hitler hatte bereits in „Mein Kampf“ eine Angliederung Südtirols ans Deutsche Reich dezidiert ausgeschlossen, sah er das faschistische Italien doch als seinen „natürlichen Verbündeten“ beim Aufbau des „Dritten Reiches“. Schlimmer als der Faschismus sollte sich später allerdings die nationalsozialistische Herrschaft in der „Operationszone Alpenvorland“ von 1943 bis 1945 erweisen. Die Hoffnungen nach Kriegsende zu einer Rückkehr nach Österreich erloschen bald. Der Pariser Vertrag von 1945 sicherte zwar Autonomie zu, allerdings sollten noch viele Jahre vergehen, bis diese im 2. Autonomiestatut von 1972 zu greifen begann. Heute, im Jahr 2019, könnte es Südtirol wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch gesehen nicht besser gehen. Was aber bleibt, ist ein Unbehagen: Wer sind wir eigentlich?

 

Südtirols verzwickte Geschichte im 20. Jahrhundert

Ein Interview mit Prof. Michael Gehler und Leo Hillebrand

Univ. Prof. Michael Gehler

Univ. Prof. Michael Gehler ist einer der profundesten Kenner der neueren Geschichte. Der His­to­riker ist Professor für Ge­schichte an der Universität Hil­desheim. Gehler lehrte lange Zeit auch an der Universität Inns­bruck und ist vielen Südtirolern durch seine Vorträge und Fern­sehauftritte bekannt. Seine zahlreichen Pub­li­kationen behandeln Themen der österreichischen, deut­schen und europäischen Zeitgeschichte. Seine Pub­li­ka­tio­nen zur neueren Geschichte Süd­tirols gelten als bahnbrechend.

Dr. Leo Hillebrand ist Ober­schul­lehrer und Historiker. Er ist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften publizistisch tätig, hat unter anderem über Kanoni­kus Michael Gamper und den Urania-Gründer Bruno Pokorny geforscht. Außerdem arbeitete er am fünfbändigen Werk „Das 20. Jahrhundert in Südtirol“ mit.

Die BAZ stellte den zwei Exper­ten vier delikate Fragen zur neueren Geschichte Südtirols.

Hat Österreich nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu wenig getan, um Südtirol zu halten?
Michael Gehler: Das kann man so nicht sagen. Man hat in beiden Fällen auf das Unrecht der will­kürlichen Landesteilung in aller Öffentlichkeit hingewiesen, ohne die Möglichkeit zu haben, das Recht auf Selbstbestimmung auszuüben bzw. eine Volksab­stim­mung abhalten zu können. In beiden Fällen war die Kons­tel­lation sehr schwierig für Wien. Die großen Mächte waren dagegen. Die Hoffnung auf Wilson und seine 14 Punkte, besonders die Selbstbestimmung, wurde 1919 bitter enttäuscht, zumal sich die USA von der von Frank­reich, Großbritannien und Ita­lien konzipierten europäischen Nachkriegsordnung distanzierten und die Pariser Vorort­ver­trä­ge gar nicht mehr ratifizierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation Wiens nicht einfacher. Österreich war vierfach besetzt, und im Osten saß eine sowjetische Besat­zungs­macht. Dennoch erreichte man im­merhin das Pariser Ab­kom­men, gleich­­wohl die Um­setzung sehr mangelhaft war und sich De Gas­peri nicht an die Ver­spre­chun­gen und Zusagen hielt. In beiden Fäl­len war Tirol weit mehr als Wien das fordernde und treibende Ele­ment, umso größer war die Er­nüch­terung und Enttäuschung, dass trotz der neuen Vereinten Nationen das Unrecht von 1919 nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiedergutgemacht wurde.

Leo Hillebrand

Leo Hillebrand: Zumindest in Bezug auf den Ersten Weltkrieg ist die Situation klar: Österreich-Ungarn war zerfallen, der neue Kleinstaat Deutsch-Österreich mit elementaren Problemen konfrontiert: ungeklärte Grenz­fra­gen, prekäre wirtschaftliche Pers­pektiven und, wichtiger, viele Öster­reicher identifizierten sich nicht mit der neuen Republik. Ein Land, das nur bestand, weil die Siegermächte den Anschluss an Deutschland verboten, das sich früh an das faschistische Ita­lien anlehnte, konnte Südtirol ob­jektiv nicht entscheidend helfen. Die These, Österreich hätte nach 1945 mehr für Südtirol erreichen können, ist unter His­to­ri­kern bis heute umstritten.
Meiner Auffassung nach waren seine Möglichkeiten etwa im Zusammenhang mit dem Selbst­bestimmungsrecht Südtirols äußerst limitiert. Dass Südtirol bei Italien blieb, ist weder dem fehlenden Engagement Wiens noch der mangelnden Versiertheit seiner Diplomaten zuzuschreiben.

Wäre die Option von 1939 mehrheitlich nicht für Nazideutschland ausgefallen, wären die Südtiroler heute bei Ös­ter­reich?
Michael Gehler: Das ist eine spe­­kulative „Was-wäre-wenn-Fra­ge“ und historisch nicht zu be­legen. Fest steht, dass die Op­tions­entscheidung von 1939 eine schwere Hypothek für die Aus­gangs­lage 1945 für Österreich und Südtiroler war, zumal Italien sich geweigert hat, das Hitler-Mussolini-Abkommen zu annullieren. Das wird häufig vergessen bzw. in Darstellungen und Erin­ne­rungen unterschlagen. Es gelang Rom viel mehr noch, die Au­tonomiefrage mit der Re-Op­tions­frage 1947/48 zu junktimieren, d. h. zu koppeln, so dass die Frage einer Provinzialautonomie in den Hintergrund rückte, weil die Rücksiedlung damit für Bo­zen, Innsbruck und Wien wich­ti­ger wurde. Ich würde die Frage ins Ge­genteil verkehren: Ein sehr deutliches Votum für das Da­blei­ben im Jahre 1939 wäre für Ita­lien, das 1945 ganz schwa- che und schlech­te Argu­men­te für den Ver­bleib Südtirols bei Italien hat­te, noch viel besser gewesen. Die Op­tion für Italien 1939 war ja auch ein Votum der Südtiroler für die italienische Staats­bür­ger­schaft.

Leo Hillebrand: Eine spekulative Frage, auf die es nur eine entsprechende Antwort geben kann. Einen Aspekt sollte man in diesem Zusammenhang nicht übersehen: In Südtirol ist der Um­stand, dass die Option für das Deut­sche Reich zum Teil doch ein Bekenntnis zum Hitler-Re­gi­me war, bis heute unterbelichtet. Für die Siegermächte spielte dieser Punkt – nicht zuletzt, weil die italienische Diplomatie ihn eifrig betonte – freilich eine nicht zu unterschätzende Rolle. Ver­bes­sert hat die Option für Deutsch­land Südtirols Chancen auf Selbst­bestimmung mit Si­cher­heit nicht.

Alcide De Gasperi hat Südtirol keine guten Dienste erwiesen: Stimmen Sie dem zu?
Michael Gehler: De Gasperi hatte drei Anliegen: Es ging ihm erstens um die Be­frie­digung der Autonomie­wün­sche seiner engeren Landsleute, der Trentiner, die durchaus Se­zes­sionsambitionen hegten und zweitens um die Si­cherung der Brennergrenze für Italien, d. h. um die Ver­hin­de­rung einer Rück­gliederung Süd­tirols an Ös­terreich. Eine Er­wähnung der Ladiner im Ab­kommen lehnte er drittens ab, was Österreichs Au­ßen­minister gewünscht hatte. Das Ab­kom­men vom 5. Sep­tem­ber 1946 mit Gruber, der zu diesem Zeitpunkt viel europäischer ausgerichtet war und dachte als sein Ge­gen­über, hatte diesen Charakter mit Blick auf diese drei Ziele. De Gasperi instrumentalisierte die Pariser Vereinbarung für diese Zwecke. Mit Silvio Innocenti, dem ehem. Präfekten von Bozen 1945/46, setzte er einen entschiedenen Gegner des Abkommens in den Folgejahren als führenden Beamten in Rom ein, der die Ab­ma­chungen zu blockieren und zu sabotieren versuchte, wo er nur konnte. Der ehemalige Reichs­rats­abgeordnete und Trentiner De Gasperi war kein Glücksfall, sondern ein Verhängnis für die Südtiroler – an diesem Faktum kann man meines Erachtens nicht vorbeikommen. Erst in den letz­ten Jahren seiner Amtszeit wurde er ein überzeugter Eu­ro­päer 1951/54 – zu spät für Süd­ti­rol.

Leo Hillebrand: Von der Ten­denz einiger Historiker, De Gas­peri zum Erzfeind Südtirols zu stilisieren, halte ich nichts, wie ins­gesamt von einer zugespitzten Personalisierung in der Ge­schicht­s­schreibung Abstand zu neh­men ist. Ein derartiger Zu­gang mag einer breiteren Masse von geschichtlich Interessierten leichter zu vermitteln sein, objektiver macht das die Sache nicht. Die Entnationalisierung unter dem Faschismus hätte es auch ohne Ettore Tolomei gegeben und zu glauben, ohne De Gas­peri wären Südtirol die politischen Schwierigkeiten der Nach­­­kriegszeit erspart geblieben, ist blauäugig. Ungeachtet seiner Tren­­tiner Herkunft, seiner k.u.k.- ­Vergangenheit war De Gas­­peri ein Vertreter der politischen Elite der Nachkriegszeit, die mit ihrem zentralstaatlichen Denken ohne solide demokratische Tra­dition einen angemessenen Um­gang mit Minderheiten erst lernen musste.

Welche Identität hat ein Südtiroler heute?
Michael Gehler: Die Südtiroler sind heute ausgehend von ihrem Selbstverständnis gefestigter und selbstbewusster denn je. Auf­grund der italienischen Süd­ti­rol­politik nach 1922 (Repression und Unterdrückung) und nach 1945/46 (Verweigerung einer eigenständigen Autonomie für Süd­tirol, Verzögerung der Rück­siedlung und italienische Zu­wan­derung) hat sich als Gegen­reaktion eine „Wir sind Süd­ti­ro­ler“-Identität herausgebildet, die vor 1918 so überhaupt nicht vorhanden war. Ich sage immer: wäre das alles im 19. Jahrhundert passiert, wäre Südtirol womöglich im 20. Jahrhundert ein eigener Staat geworden und so wie Lu­xemburg heute ein EU-Mit­glied, aber das ist jetzt auch eine Spekulation.
Leo Hillebrand: Die eine Süd­tiroler Identität vermag ich nicht auszumachen. Zwei Haltungen von Südtirolern fallen jedoch immer wieder ins Auge. Man versucht, die durch politische Un­ter­drückung, Option, aber auch Armut und Rückständigkeit bedingten Traumata der Ver­gan­genheit und die fehlende Kon­fron­tation damit durch ein neureiches und krawalliges Auf­tre­ten zu übertünchen. Dem gegenüber steht der weltoffene, meist gut ausgebildete Südtiroler, der die heutige Situation im Land – etwa die Präsenz dreier Sprach­grup­pen – nicht als Manko, sondern als Bereicherung versteht.

 

Wer sind wir Südtiroler?
Ein Essay von Toni Haller Pixner, Meran

Toni Haller Pixner

Nach seiner (nationalen?) Iden­ti­tät befragt, beginnt so mancher zu stottern, gerät so mancher ins Straucheln. Auch der im zentralen Europa hockende Südtiroler, auch die Süd-Tirolerin, Ein­kaufs­taschen schleppend, Dialekt sprechend, auch Hochdeutsch, Ita­lienisch und drei Brocken Eng­lisch.
Der „klassische“ Südtiroler hat in seinem Garten einen Baum – viel­leicht Stamm-Baum? Er klettert auf ihn rauf, sieht im Süden bis Trient, im Osten bis Kufstein, Salz­burg ist bereits zu weit entfernt. Im Norden sieht er ein paar Münchner speckige Leder­ho­sen, nordöstlich Zürich hinter sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Wien ist weit weg… auch Berlin, Paris, Rom.
Die Süd-Tirolerin, immer noch in der Krone ihres Stammbaumes hockend, schaut den Stamm nach unten zu den Wurzeln, wo sie keine sieht: sie sind in Süd­ti­roler Erde versenkt. Schnell wird vom Baum heruntergeklettert, in Ge­schichts­büchern nachgeforscht und gegoogelt. Markante Jah­reszahlen leuchten blinkend auf: 1919 – 1939 – 1943 – 1945 – 1961 – 1972 – 1989 – 2019.
Sind Südtirolerinnen und Süd­tiroler an Stammbäumen aufgepfropfte Italiener? Oder Öster­rei­cher, denen die zarten Triebe abgeschnitten worden sind. Oder Bier­glas schwenkende Baju­wa­ren? Als ganz gesichert scheint: Schweizer sind sie nicht!
Der tapfere Südtiroler nimmt an der Hand seine Süd-Tirolerin, beide fliegen im Airbus nach Sid­ney, Rio, Kapstadt, New York. Dort angekommen, sind sie immer noch verdattert, wenn ihnen von global verständnisvollen Men­schen die Frage nach ihrer Identität gestellt wird. Ein Di­lem­ma, aus dem es vielleicht nur einen Ausweg gibt: ech­te Bildung, den engen Ho­ri­zont erweitern, die einzigartigen Chancen in der Vielheit erkennen, mit all ihren sprachlichen, kulturellen, politischen, sogar religiösen Über­lap­pun­gen. Wer auf seinen Stamm­baum Respekt und Toleranz gepfropft hat, sieht über seine eigene Nasenspitze hinaus, sieht eine Welt, in der alle Schwes­tern und Brüder sind, eine Vision, die bereits Friedrich Schiller hatte vor über 200 Jah­ren.

 

 

von Josef Prantl