Kann man eine Geschichte über eine Straße erzählen, die gar nicht existiert? Natürlich. Es gibt viele Straßen, die gewünscht, vielleicht sogar geplant waren, aber nie realisiert wurden. Zum Beispiel die Brennerautobahn durch das Etsch- und Passeiertal.
Einen Grund über den Brenner zu fahren, gab es in der Geschichte schon immer. Ob auf der Via Raetia oder der Via Imperii, auch die Römer waren nicht die ersten, die einen Weg über die Alpen suchten und mit dem Brenner eine ideale Verbindung zwischen Nord und Süd fanden. Bekanntlich führten alle Wege nach Rom und wer vom Norden kam, der musste über den Alpenhauptkamm. In der Antike Konsul Lucius Calpurnius Piso, der Schwager Caesars, in der frühen Neuzeit Martin Luther, später Johann Wolfgang von Goethe, sie alle nutzen die Strecke über den Brenner. Auch wer heute nach Innsbruck fährt, der wird, wenn er nicht im oberen Vinschgau wohnt, aller Voraussicht nach den Weg über die Autobahn A22 wählen. Die offiziellen Bauarbeiten zur Brennerautobahn begannen 1964 und dauerten zehn Jahre. Mit dem Stück zwischen Klausen und Bozen wurde 1974 der letzte und wohl technisch anspruchsvollste Abschnitt mit mehreren Brücken, Viadukten und Tunneln eröffnet. Dabei war der Weg durch das Eisacktal nicht die einzig mögliche Strecke.
Zwei Wege
Die Diskussion über die bestmögliche Trassenführung wurde in den 1950er Jahren heftig geführt, berichtet Historikerin Magdalena Pernold in ihrer Arbeit über die Brennerautobahn. Neben der tatsächlich realisierten Variante durch das Eisacktal gab es eine zweite, die über das Etschtal, Meran, das Passeiertal und einen Tunnel unter dem Jaufenpass führte. Die Idee dazu hatte der Bozner Ingenieur Dr. Norbert Wackernell 1960 vorgestellt und wurde von der Meraner Politik und Wirtschaft mit Interesse aufgenommen. Das eigens gegründete „Komitee für die Brenner-Autobahn über Meran“ unterstützte den Wackernell-Entwurf und bestand u. a. aus Vertretern der Stadtgemeinde und Kurverwaltung, sowie der Kaufleute und Hoteliers. Ein von Wackernell ausgearbeitetes Projekt wurde noch im selben Jahr bei der zuständigen Straßenbaubehörde ANAS eingereicht. Es gab durchaus einige attraktive Argumente: die kürzere Streckenführung, eine weniger durch bereits bestehende Straßen überladene Landschaft, auch baubedingte Behinderungen der Brennerstaatsstraße wären entfallen. Wackernells Projekt erhielt starke Beachtung, besonders die italienischsprachige Tageszeitung „Alto Adige“ warb massiv dafür. Die Akteure der Eisacktaler Variante sahen sich nun unter Druck gesetzt und begannen ihr Engagement zu intensivieren. Nachdem die ANAS beide Projekte verglichen hatte, gab sie schließlich Anfang 1962 der Eisacktaler Trassenführung den Vorzug. Ausschlaggebend waren technische Probleme bei der Meraner Variante, sowie höhere Bau- und Erhaltungskosten, die vor allem dem Jaufentunnel geschuldet waren. Jubel auf der einen, Enttäuschung auf der anderen Seite.
Zwei Werbetrommeln
Wer nun denkt, dass mit der Entscheidung der ANAS die Angelegenheit erledigt gewesen wäre, der täuscht sich. Da sich die Meraner von ihrem Projekt wichtige Perspektiven für die Stadt und das Burggrafenamt erhofften, verfolgten sie dieses auch nach der Ablehnung und gingen weiterhin mit ihren Plänen hausieren. Die Bürgermeister der beteiligten Gemeinden kamen sogar überein, den „Standpunkt der Meraner Trasse der Brenner-Autobahn bei jeder geeigneten Gelegenheit zu vertreten“, schreiben die „Dolomiten“. Dies wiederum verunsicherte die Eisacktaler, die ihrerseits den Ball aufnahmen und zu den vorgebrachten Behauptungen Stellung bezogen. Jede Seite schmückte sich mit international renommierten Fachleuten. Noch Jahre später erklärte die „Alto Adige“ ihren Lesern, dass es nicht zu spät für eine andere Trassierung sei. Auch eine Überschwemmung im Herbst 1965 und eine zeitweilige Sperrung der Brennerstaatsstraße waren willkommene Argumente. Geholfen hat es letzten Endes nicht.
Christian Zelger