Der Name Norbert Wackernell ist dem interessierten Zeitungsleser nicht unbekannt. Ging es um die Nord-West-Umfahrung oder um den Mobilitätsplan für Meran, kam man an ihm nicht vorbei. „Wackernell zählt zu den bedeutendsten Ingenieuren Südtirols“, sagt Leo Hillebrand, der nun eine Biografie über ihn verfasst hat. Bekannt wurde Wackernell mit unkonventionellen Vorschlägen für alpine Flughäfen, kühnen Entwürfen transalpiner Autobahnstraßen und kreativen Lösungen innerstädtischer Verkehrsprobleme.
von Josef Prantl
Sein Name taucht schon sehr früh in den Medien auf. Etwa als er 1961 von einem Meraner Promotorenkomitee beauftragt wurde, eine Trasse der Brennerautobahn über das Passeier- und Etschtal zu planen. Wackernell war aber auch geschichtlich sehr interessiert. Er betrieb historische Studien, veröffentlichte mehrere davon im „Schlern“ und schrieb auch Bücher zur Meraner Stadtgeschichte.
Behütete Kindheit in Meran
1927 in der Passeirer Gasse, wo die Großeltern ein Lebensmittelgeschäft führten, in behütete Verhältnisse hineingeboren, besuchte er in Meran das Humanistische Gymnasium, machte die Matura aber aufgrund der Umstände erst nach dem Krieg am Realgymnasium. Sein Vater war Ingenieur, zählte also zur Bildungselite der Stadt. Die Familie der Mutter betrieb in der Passeirer Gasse nahe der Santer Klause einen Gemischtwarenladen. Vater Wilhelm hatte gleich nach dem Ersten Weltkrieg am Turiner Politecnico Elektrotechnik studiert und sich dann beruflich in Südtirol etabliert, wo er über lange Jahre die E-Zentrale in Forst bei Algund betreute. Zu seinen wichtigsten Projekten zählte die Realisierung der Hochspannungsleitung von der Forster Zentrale über den Jaufenpass nach Sterzing.
1946 schaffte Nobert Wackernell am Realgymnasium die Matura und schrieb sich am Mailänder Politecnico in das Fach Hoch- und Tiefbau ein. Nach dem Studium und dem geleisteten Militärdienst kehrt er 1953 nach Meran zurück, wo er vorerst mit den Eltern in einem Haus am Tappeinerweg lebte. 1954 folgt die Übersiedlung nach Bozen, Wackernell behielt seinen zweiten Wohnsitz in Meran bei, wo er sich vor allem in der wärmeren Jahreszeit aufhielt. In den 1950er-Jahren realisierte er mehrere große Beregnungsanlagen im Raum Meran. 1961 erhielt er von der Meraner Kurverwaltung den Auftrag, ein Projekt zur „Meraner Trasse“ der Brennerautobahn auszuarbeiten. Nach lang anhaltenden öffentlichen Kontroversen wurde die Autobahn zwar dann doch über Brixen geführt, über sein Projekt wurde der Ingenieur jedoch in Südtirol schlagartig bekannt. Ab den 1960er-Jahren projektierte Wackernell in Meran sowohl Wohnhäuser als auch Gewerbebauten. Wichtigstes Beispiel ist die Firma Zipperle, deren in den letzten 50 Jahren entstandene Gebäude in der Max-Valier-Straße ausnahmslos von Wackernell geplant wurden.
Der Verkehrsplaner
Seit den 1960er-Jahren setzte sich Wackernell aktiv mit der Verkehrsinfrastruktur in Meran auseinander, was in einer Reihe von Projekten zum Ausdruck kam. Wichtigste Beispiele: die „Passerdamm-Variante“ als eine mit geringem Aufwand umsetzbare Option, die Stadt vom Durchzugsverkehr zu entlasten. Wackernell gilt auch als „Vater“ der derzeit im Bau befindlichen Nordwestumfahrung, deren Umsetzung er mit mehreren Projekten bis zu seinem Rückzug 2006 begleitete. Der von Wackernell geplanten und 1999 – 2003 verwirklichten großräumigen Umfahrung von Naturns-Staben durch zwei Tunnels kam eine wichtige Vorbildwirkung für verschiedene, später verwirklichte Landesprojekte zu (Sarntal, Umfahrungen Unterland usw.).
Vielseitig interessiert
Sein ausgeprägtes historisches Interesse kam in mehreren Arbeiten mit Schwerpunkt Meran in Altertum und Mittelalter zum Ausdruck. Bereits als Student in Mailand verfasste er die umfangreiche Studie „Die Entstehung der Stadt Meran“. Seit den 1990er-Jahren setzte er sich in mehreren, u. a. im „Schlern“ publizierten Beiträgen mit der Geschichte des Pulverturms, der Via Claudia Augusta oder der Entstehung der Lauben auseinander. Dr. Ing. Norbert Wackernell starb am 17. November im Alter von 93 Jahren 2020 und liegt am Städtischen Friedhof in Meran begraben.
Leo Hillebrand hat eine ausführliche Biografie über Nobert Wackernell verfasst, die demnächst erscheint. Die BAZ sprach mit dem Historiker.
Sie haben sich intensiv mit dem Meraner Ingenieur Norbert Wackernell beschäftigt. Was macht diesen Mann so außergewöhnlich?
Leo Hillebrand: Eindeutig die Vielseitigkeit auf hohem Niveau. Schon als Ingenieur betätigte er sich erfolgreich in völlig unterschiedlichen Bereichen. Wackernell projektierte so unterschiedliche Dinge wie Laufställe, Langlaufloipen oder Kegelbahnen. Noch mehr verblüffte mich seine wissenschaftlich-künstlerische Ader: Er hinterließ eine Sammlung erstklassiger Federzeichnungen, entwickelte auf bestimmten geschichtlichen Feldern sowohl Ehrgeiz als auch Kompetenz. Kurzum: Er war das genaue Gegenteil eines Fachidioten.
Wie sind Sie überhaupt dazu kommen, über Wackernell eine Biografie zu schreiben?
Über meine Mitarbeit am Dorfbuch Nals, wo ich den Bereich Landwirtschaft betreute. Da Wackernell Mitte der 1950er-Jahre für die Beregnungsgenossenschaft eine große Anlage errichtete, rief ich in seinem Studio wegen Unterlagen an. Ich staunte nicht schlecht, dass so viele Jahrzehnte später am anderen Ende der Leitung nicht ein Nachfolger antwortete, sondern der Ingenieur selbst.
Wie war der private Norbert Wackernell?
Ich erlebte ihn als sehr umgänglichen, uneitlen alten Herrn. Ich weiß aber, dass er in jüngeren Jahren gegenüber seinem Umfeld sehr fordernd auftreten konnte. Er leistete viel, erwartete aber auch viel, sowohl von seinen Kindern als auch von seinen Mitarbeitern und Schülern.
Ihre Biografie trägt den Titel „Wackernells Visionen“. Können Sie uns die wichtigsten dieser Visionen kurz vorstellen?
Wenn man sich heute manche seiner Studien und Projekte ansieht, wirken diese gar nicht besonders originell. Das Bemerkenswerte daran ist aber: Sie sind zum Teil 50, 60 Jahre alt! Er sah also immer wieder Trends frühzeitig voraus, wie z. B. Stichwort nachhaltiges Bauen. Soviel geistige Offenheit kam nicht von ungefähr: Er brach bereits in der Nachkriegszeit aus der Enge Südtirols aus, ließ sich nicht zuletzt auf seinen zahllosen Reisen inspirieren.
Wackernell hat immer wieder auch recht utopische Studien vorgestellt, die für Aufsehen sorgten: Hirngespinste oder kreative Lösungsvorschläge?
Eindeutig letzteres. Wobei einzuräumen ist, dass auch Wackernell vor Fehlschlägen nicht gefeit war. Einmal wollte er das klassische Surfbrett zu einem Surfkatamaran weiterentwickeln. Obwohl er viel Zeit investierte, erwies sich die Konstruktion als dermaßen schwerfällig, dass er selbst von einem „Desaster“ sprach.
Zahlreiche Patente sollen von ihm stammen?
Bereits als ganz jungem Ingenieur gelang es ihm, seinen „MotoSchirm“ – einen Regenschutz für Motorräder – gewinnbringend in Deutschland zu verkaufen. Mit Abstand am Wichtigsten wurde aber sein Raumfachwerk „WACO-System“, mit dem er international in der ersten Liga mitspielte und zum Teil sogar Konkurrenten wie den Mannesmann-Konzern ausstach.
Wackernell vertrat gerne Lösungen, die recht aufwendig und auch teuer waren, wie etwa Umfahrungsstraßen in Tunnels zu versetzen. Hat sich das letztlich bewährt?
Da stellt sich die Frage, wie viel nachhaltiges Bauen einer Gesellschaft wert ist. Wackernell war der Verkehr als belastender Faktor für die Anrainer sehr früh bewusst. Eine Tunnellösung oder eine weiter ausgreifende Routenführung kosten, bieten aber der Umgebung auch viel an Lebensqualität.
Er gilt als Vater der Meraner Nord-West-Umfahrung, mit seiner Passerdamm-Variante überraschte er dann aber doch?
Bei wenigen seiner Projekte gehen die Meinungen dermaßen auseinander wie bei seinem Ansatz, den südlichen Damm der Passer über mehrere Kilometer zu einer unterirdischen Durchfahrtsstraße auszubauen. Ein kleines Teilstück ist beim Thermen-Neubau verwirklicht worden. Er selbst zeigte sich bis zuletzt überzeugt von der Bonität der Variante, andere Ingenieure wie Manfred Ebner betonen die damit verbundenen Probleme, etwa die Frage der Ablösung der Anrainer.
Die Auseinandersetzung mit historischen Gebäuden spielt im Schaffen Wackernells eine zentrale Rolle. Wo überall zeigt sich bis heute die Handschrift Wackernells in der Südtiroler Architektur?
Wackernell war an der Sanierung bzw. Sicherung so symbolträchtiger Ensembles wie Schloss Tirol, Kloster Säben oder der Bozner Pfarrkirche beteiligt. Viel wichtiger war aber sein Engagement für den Erhalt der Bozner Talferbrücke. Die monatelange, öffentlichkeitswirksam ausgetragene Auseinandersetzung um Abriss oder Erhalt trug in der Südtiroler Bevölkerung zu einem Umdenken im Umgang mit historischer Bausubstanz bei. In den 1960er- und 1970-Jahren hatte im Baubereich ja ein regelrechter Kult um das Neue geherrscht.
Der Sportpalast in Kuweit City (1976) wurde mit dem von Wackernell entwickelten WACO-System errichtet. Was ist darunter zu verstehen?
Das von Wackernell patentierte WACO-System ist eine spezielle Stahldachkonstruktion, die gegenüber vergleichbaren Aufbauten in logistischer, finanzieller und ästhetischer Hinsicht klare Vorteile bot. Die Auftraggeber waren besonders von der Idee angetan, dass ein Bombentreffer nicht gleich das ganze Dach zerstört, sondern nur den unmittelbar betroffenen Bereich. Sie ahnten Wackernell zufolge die kommenden Auseinandersetzungen mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein schon voraus.
MeBo alternativ betiteln Sie ein Kapitel in Ihrem Buch. Was war die Alternative, die Wackernell anstelle der Schnellstraße vorschwebte?
Zusammen mit seinem Freund, dem Bozner Architekten Hanns von Klebelsberg, wollte er die MeBo nicht mitten im Tal bauen, sondern am orografisch linken Rand des Etschtals, und zwar oberhalb der Ortschaften. Mit einem Leitgedanken: die Etsch von Meran bis Bozen renaturieren und große Areale in Naherholungszonen für Anwohner und Feriengäste umwandeln.
Als sein „Steckenpferd“ bezeichnete Wackernell das Projekt zur Verlegung des Bozner Flughafens von St. Jakob hinauf nach Kohlern. Wirklich ein kühner Plan?
Ja, weil ein Flughafen auf einem Berg damals eindeutig ein Tabu darstellte – obwohl die Südtiroler gleichzeitig in großem Stil darangingen, die Berge dem Massentourismus verfügbar zu machen. Wackernells Überlegung war ganz simpel: Verlegung des von der Bevölkerung immer schon skeptisch beäugten Flughafens weg vom Bozner Ballungsraum in eine abgelegene Zone. Bemerkenswert: Die Frage der Flughafenzufahrt verknüpfte er mit Vorschlägen zur Umfahrung der Landeshauptstadt.
In Mals gab es eine „Wackernell-Kaserne“: Was hat es damit auf sich?
Die Kaserne war nach Siegfried Wackernell benannt, einem Onkel von Norbert. Wackernell war 1928 beim Aufstand der Libyer gegen die italienische Besatzung in einen Hinterhalt geraten und gefallen. Das faschistische Regime beerdigte ihn mit großem Pomp und benannte die Kaserne in Mals nach ihm, um öffentlich zu betonen, dass nun auch die Südtiroler die politischen Ziele des Regimes teilten.
Wackernells Leidenschaft galt auch der Geschichte. Er schrieb Bücher und veröffentlichte im „Schlern“. Woran galt sein besonderes Interesse?
Eindeutig dem historischen Meran. In seinem Studio in der Bozner Andreas-Hofer-Straße hing denn auch über Jahrzehnte eine große Stadtkarte aus dem 17. Jahrhundert. Themen wie die Entstehung der einzelnen Stadtviertel, die Via Claudia Augusta und vor allem die Geschichte des Pulverturms, in dessen Schatten er ja aufwuchs, faszinierten ihn bis zuletzt.
Sein mit 92 Jahren veröffentlichtes Buch lautet „Der Zorn der Piltrude und der Bischof 2019“: Worum geht es darin?
Wackernell entwickelt seine Erzählung auf der Basis eines frühmittelalterlichen Ereignisses: Unter seinem Wohnhaus am Küchelberg war historischen Quellen zufolge 730 ein Junge namens Arbeus in den steilen Felsen gestürzt. Er konnte jedoch heil gerettet werden und schrieb dies einem Wunder des bayerischen Bischofs Korbinian zu, dessen Nachfolge er später antrat.
Sie zitieren in Ihrem Buch Landeshauptmann Luis Durnwalder, der Wackernell als einen Visionär bezeichnet, der stets „weiter zu schauen“ suchte. Was ist sein Vermächtnis an die Zukunft?
Eigentlich Anliegen, die auffallend zeitgeistig klingen. Nach nachhaltigen Lösungen suchen, Synergien bilden, Dinge im Kontext sehen – das waren seine Leitlinien.