Was wäre, wenn wir das Rad der Zeit um 100 Jahren zurückdrehen könnten? Tutanchamuns Grab stünde vor seiner Entdeckung und Franz Lehars Operette „Frühling“ vor der Uraufführung, Paul Flora würde das Licht der Welt erblicken und die Galileo-Galilei-Straße in Meran noch Jahnstraße heißen.
Am 19. Jänner 1922 erreichte die „Südtiroler Landeszeitung“ ein Leserbrief. Darin begrüßten die Schreiber, allem Anschein nach ausländische Stammgäste, das Ansinnen der bürgerlichen Parteien von Meran, endlich die nötigen Asphaltierungsarbeiten sowie die Schaffung von Alleen in Angriff zu nehmen. Gerade Letzteres würde das Budget der Stadt nicht sonderlich belasten, aber „dem Weichbilde unserer Gartenstadt gleich ein ganz anderes Gepräge“ geben. Auch welche Straßen hier besonders berücksichtigt werden sollen, geben die Schreiber dem Leser mit – allen voran die Jahnstraße.
Wenige Wochen später fand die Faschingsveranstaltung des lokalen Turnvereins unter dem Motto „Ein Narrenabend in König Laurins Rosengarten“ statt. Die Vorbereitungen für den Empfang in Laurins „wundervoll geschmückten, feenhaft beleuchteten Heim“ seien voll im Gange. Mit der Versendung der Einladungskarten sei schon begonnen worden, der Zutritt aber nur gegen Vorweis der auf Namen lautenden Karten gestattet. Schon eine Woche zuvor hatte derselbe Verein ein Kränzchen veranstaltet. Auch dort musste man mit persönlicher Einladungskarte erscheinen und dazu die Kleidungsvorschriften erfüllen: Einlass nur mit Bauern- oder Berggewand – heute würden wir dazu wohl 2B sagen. In beiden Fällen war der Ort des Geschehens die Turnhalle in der Jahnstraße. Seit 1928 ist sie allerdings (mit einer kurzen Unterbrechung) nach Galileo Galilei benannt. Der alte Name hat sich aber lange gehalten. Bis Mitte der 50er Jahre verwendeten ihn lokale Zeitungen und bis in die 60er Jahre hinein wurde nach Galileo-Galilei-Straße hinzugefügt: „ehemalige Jahnstraße“. Wer war also dieser Jahn?
Am bekanntesten dürfte er mit seinem Beinamen Turnvater sein. Geboren wurde Friedrich Ludwig Jahn 1778 in Brandenburg. Sein Vater war evangelischer Pfarrer, seine Mutter Pfarrerstochter. Jahn, der später als Lehrer, Schriftsteller, Politiker und Turner in Erscheinung treten wird, war ein unruhiger Geist.
In Salzwedel, einer kleinen Stadt in Sachsen-Anhalt, hatte er das Gymnasium besucht, das heute nach ihm benannt ist. Später wechselte er nach Berlin, verlies aber die Schule ohne Abschluss. An der Universität schrieb er sich trotzdem ein, studierte Theologie, verfasste patriotische Schriften, fiel bei den Obrigkeiten unangenehm auf und erhielt schließlich ein Studierverbot für alle deutschen Universitäten – was ihn aber davon nicht abhielt.
Schon vor seiner Heirat arbeitete Jahn als Haus- und Hilfslehrer. Er setzte sich für Bürgerrechte, die Einheit des Landes und Bildung ein, außerdem, dass auch Kinder aus niederen Ständen Aufstiegschancen erhalten. 1810 gründete er mit Freunden nahe Berlin einen Geheimbund. Aus den langen Wanderungen entwickelte sich schließlich das gemeinsame Turnen. 1811 gilt als Geburtsstunde der deutschen Turnbewegung. Das heutige Geräteturnen geht auf Jahn zurück, Geräte wie Reck und Barren wurden von ihm eingeführt. Die Bewegung verbreitete sich über ganz Deutschland und fand ihren Höhepunkt 1817 im Wartburgfest. Dabei war der Sport oft nur Vorwand für die Treffen. Vielmehr ging es darum, junge Menschen in ihrer patriotischen Gesinnung zu stärken und sie für den Kampf gegen die Feinde der Freiheit, damals vor allem Napoleon, vorzubereiten. Als ein Turner in einen Mord verwickelt war, ging man gegen die Turnverbände vor, Jahn wurde verhaftet und für die folgenden sechs Jahre eingesperrt. Erst 15 Jahre nachdem man ihn freigelassen hatte, wurde er rehabilitiert, die Turnsperre aufgehoben und die Turnvereine, die ihn als „Turnvater Jahn“ verehrten, legalisiert. Egal, wie die Situation gerade war, das Motto der Turner war immer dasselbe: Frisch, fromm, fröhlich, frei.
Christian Zelger