Dass nur eine geringe Zahl der Südtiroler Straßen nach einer Frau benannt sind, wurde schon im Beitrag über Claudia de Medici erwähnt. Umso wichtiger ist es, nach weiteren Frauen Ausschau zu halten.
Es war am Tag meiner Booster-Impfung. Trotz Termin in der Meraner Kaserne „Julia“ war es alles andere als eine schnelle Angelegenheit. Immerhin konnte ich in einer „tenda media“, einem mittelgroßen Zelt warten, was mich zur Frage führte, wie groß wohl erst ein großes Zelt sein musste. Zunächst aber sollte ich einen Parkplatz für mein Auto finden, was gar nicht so einfach war, weil sich an jenem Tag anscheinend jeder impfen lassen wollte. Auf dem Weg entlang der alten, trostlosen Mauern zurück zur Kaserne erinnerte ich mich an eine Gedenktafel, an der ich vor kurzem vorbeispazierte. Sie machte auf eine Außenstelle des Durchgangslagers Bozen aufmerksam, im Volksmund auch KZ Sigmundskron genannt: „Politik, Krieg und Rassismus waren die Gründe für die Gefangennahme von Frauen und Männern aus verschiedenen Sprach- und Religionsgemeinschaften, die hier Zwangsarbeit verrichten mussten. Um Weihnachten 1944 gelang es zwei jungen Frauen, über diese Mauer zu klettern und aus dem Lager zu fliehen. Dank der Hilfe einiger Meraner Bürgerinnen und Bürger konnten sie sich in Sicherheit bringen.“ Dabei war es nicht das einzige Arbeitslager. Nicht in Südtirol und nicht in der Passerstadt. Zu ihnen gehörte auch die später nach Leone Bosin benannte Meraner Kaserne. Auf der Suche nach den Namen der beiden Frauen bin ich schließlich auf die Albertina-Brogliati-Straße gestoßen.
Mutige Frauen
Albertina Brogliati wurde 1924 in Belluno geboren. Ihre Familie gehörte während des Zweiten Weltkrieges zum antifaschistischen Widerstand. Ihre Schwester Lidia war mit Francesco Pesce, dem Kommandanten der Partisanenbrigade „Nannetti“ verheiratet. Alberto, Albertinas Zwillingsbruder, gehörte ebenfalls dazu. Am 16. Juni 1944 befreiten zwölf Partisanen, die sich als Deutsche verkleidet hatten, 70 Personen aus einem Gefängnis, darunter auch Pesce, der zum Tode verurteilt worden war und auf seine Hinrichtung wartete. Als Vergeltung für die „Operation Baldenich“ genannte Aktion wurde Albertina zusammen mit ihrer Mutter, Schwester und Schwägerin verhaftet. Zunächst im Gefängnis von Belluno inhaftiert, kamen sie nach Bozen und dann nach Brixen. Dort hatte man die beiden älteren Frauen freigelassen. Albertina aber wurde in ein KZ-Außenlager nach Meran überführt. Hier waren hauptsächlich Frauen untergebracht, meist Familienmitglieder von Partisanen oder Deserteuren. Eineinhalb Monate später gelang ihr zusammen mit der Venezianerin Ernesta Sonego, auch sie eine Meldegängerin der Partisanen, die Flucht. Belluneser Familien, die sich in Meran niedergelassen hatten, halfen ihnen dabei.
Trauriges Schicksal
Nach dem Krieg arbeitete Albertina Brogliati als Kunstlehrerin und engagierte sich ehrenamtlich in Gefängnissen, wo sie Straftätern bei der Weiterbildung und Resozialisierung half. 1985 wurde sie von einem Insassen mit rechtsradikalem Hintergrund grausam ermordet. Ausgerechnet sie, der die Flucht aus einem Konzentrationslager gelang, musste ein solches Schicksal erleiden. Das ist besonders tragisch, traurig und macht wütend. 2006 erschien Paolo Valentes Buch „La città sul confine“, in dem sich die Erzählung „Natale ‘44“ befindet. Sie handelt von den Erlebnissen Brogliatis und Sonegos, die den Mut hatten, in einer ihnen unbekannten Stadt in der Dunkelheit über die Lagermauern zu steigen und zu fliehen. Zwei Jahre später beschloss der Gemeinderat von Meran, in der Nähe der ehemaligen Kaserne eine Straße nach Albertina Brogliati zu benennen.
Christian Zelger