Wer hätte das gedacht! Atomkraftwerke sind wieder in. Nach Tschernobyl und Fukushima glaubte man, dass die Stromgewinnung aus Kernspaltung passé sei, nun plötzlich soll der Atomenergie ein grünes Etikett verpasst werden. Nuklear ist plötzlich wieder en vogue und viele verstehen die Welt nicht mehr.
von Josef Prantl
Nicht trotz, sondern gerade wegen des Klimawandels erfährt Kernenergie ein Revival. Während viele das Thema für immer beerdigt haben, erwägt die EU-Kommission sogar, Atomstrom ein nachhaltiges Prädikat auszustellen. Punktgenau zu Jahresende veröffentlichte die Kommission einen Entwurf mit dem Vorschlag, unter bestimmten Bedingungen Investitionen in Atomkraftwerke als klimafreundlich einzustufen und Atomenergie in das EU-Programm für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten und Energieformen aufzunehmen. Verfechter argumentieren, nur mit der emissionsfreien Kernkraft könne die Wende zu erneuerbaren Energien funktionieren. Die Gegner bemängeln indes das Problem der Endlagerung und die Erfahrungen aus den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Unerwartet viele Länder sehen das anders, trotz der verheerenden Folgen der Unfälle wie in Fukushima. Es gebe keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass Kernenergie mehr Schäden an menschlichem Leben oder an der Umwelt als andere Stromerzeugungstechnologien verursacht, heißt es im Schreiben des EU-Expertengremiums. „Kernreaktoren sind die einzige, bewiesen emissionsarme Technologie, die in der nötigen Zeit und Größe eingesetzt werden kann, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen“, beschwört die Atom-Lobby. Dabei setzt sie auf die Entwicklung kleinerer Reaktoren, wie sie Flugzeugträger, U-Boote und Eisbrecher schon nutzen.
Atomkraft-Aktien in Ökofonds?
Insgesamt zeigt sich, dass Kernenergie in den kommenden Jahren eben doch nicht zum Relikt der Vergangenheit verkümmern wird. Davon zeugt auch die Zahl der Meiler, die in Bau oder zumindest in Planung sind. Derzeit sollen weltweit rund 100 neue Reaktoren geplant sein. Und an den Börsen wird schon seit einigen Monaten auf Uran gewettet. Die „Uranfans“ in den Börsenforen stützen sich noch auf weitere Autoritäten: vor allem Microsoft-Gründer Bill Gates, der schon seit Jahren predigt, „wir brauchen mehr Atomkraft, um CO2-Emissionen auf Null zu bringen und eine Klimakatastrophe abzuwenden“. Seine 2006 gegründete Firma „Terrapower“ möchte Minireaktoren bauen. Diese kleinen Natrium-Reaktoren zählen zur nächsten Generation der Nukleartechnik. Die Sicherheitsrisiken seien eher noch höher als bei herkömmlichen Reaktoren, entgegnen die Kritiker.
Stromgewinnung in der EU
Vor allem Frankreich und osteuropäische EU-Länder wollen Atomenergie für „nachhaltig“ erklären lassen. Ganze 70 % seines Stromes bezieht Frankreich aus der Nuklearenergie, 56 Reaktoren sind über das Land verteilt. „Die Atomkraft ist ein Glück für unser Land”, schwärmt Frankreichs Präsident Macron. Eine Milliarde Euro will Paris allein in die Entwicklung von sogenannten „Minikraftwerken” stecken. In Ländern wie Deutschland und Österreich löste der Vorschlag der EU-Kommission Empörung aus. In 13 der 27 EU-Staaten gibt es Atomkraftwerke. Deutschland hat nach der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima im Jahr 2011 beschlossen, die Atomkraftwerke stufenweise abzuschalten. Noch in diesem Jahr sollen alle geschlossen werden. Italien beschloss bereits nach Tschernobyl den Ausstieg aus der Atomenergie und nahm bis 1987 alle vier bestehenden Reaktoren vom Netz.
Strom aus Kernenergie
Der Anteil der Nutzung der Kernenergie zur Stromgewinnung in den EU-Ländern variiert je nach Land sehr stark. 2020 hatte Atomenergie einen Anteil von 11 % am gesamten Energieverbrauch in der EU. Mit einem Atomstrom-Anteil von über 70 % an der Stromgewinnung liegt Frankreich nicht nur EU-weit, sondern auch weltweit an erster Stelle. An zweiter Stelle in der EU rangiert die Slowakei mit 53 % vor Ungarn (48,0 %), Bulgarien (40,8 %), Belgien (39,1 %), Slowenien (37,8 %), Tschechien (37,3 %) und Finnland (33,9 %). Im Durchschnitt betrug der Anteil von Atomstrom an der Stromgewinnung in der EU im Jahr 2020 fast 25 %. Die zivile Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung begann um die Mitte der 1950er Jahre. Weltweit sind laut IAEA 441 Reaktoren in 33 Ländern in Betrieb. Von den derzeit rund 54 im Bau befindlichen Atomkraftwerken befinden sich die meisten in Asien, an erster Stelle liegt China mit 14 Kernkraftwerken, gefolgt von Indien mit 6, Südkorea und Russland mit je 4 und der Türkei mit 3. In 14 weiteren Ländern werden neue Kernkraftwerke errichtet, darunter auch in Frankreich, Finnland und der Slowakei. Neben der Atomenergie will die EU-Kommission auch die Energiegewinnung aus Erdgas als klimafreundlich einstufen. Da die Stromnachfrage, auch wegen der Zunahme der Elektroautos in den kommenden Jahren, stark zunehmen wird, wird es bis 2050 nach Einschätzung vieler Experten nicht gelingen, allein durch mehr erneuerbare Energie Klimaneutralität zu erreichen. Daher soll auch Gas, obwohl es eine fossile Energie ist, aber deutlich weniger CO2 verursacht als Kohle, als sogenannte „Brückenenergie“ noch über einen längeren Zeitrahmen hinaus zur Stromgewinnung genutzt werden.
Netto-Null-2050
Die Erreichung der Pariser Klimaziele sei eine der größten Herausforderungen, vor der die Menschheit derzeit steht, heißt es im jüngsten Bericht der Internationalen Energieagentur (IAEA). Dafür muss der Verbrauch der fossilen Energien Erdöl, Gas und Kohle drastisch reduziert werden. Ab 2035 sollen keine PKWs mit Brennstoffmotoren mehr auf den Markt kommen. Bis 2050 soll der Erdölverbrauch um -75 %, der Gasverbrauch um -55 % und der Kohleverbrauch um fast -90 % zurückgehen. Zwei Drittel der gesamten Energieversorgung sollen 2050 von erneuerbaren Energien (Solar-, Wind- und Bioenergie, sowie Energie aus Geothermie und Wasserkraft) gedeckt werden. Am stärksten wird der Anteil erneuerbarer Energien bei der weltweiten Stromgewinnung zunehmen. So jedenfalls nach den Plänen der IAEA.
Strom aus erneuerbarer Energie
Heute schon hat im Stromsektor erneuerbare Energie einen weit größeren Anteil als man glauben möchte. 2019 machte Ökostrom
27 % der weltweiten Stromproduktion aus. Wasserkraft liegt an erster Stelle, gefolgt von Windstrom, Photovoltaik und Strom aus Biomasse. Es erstaunt, dass Zentral- und Südamerika an erster Stelle bei der Stromgewinnung aus erneuerbarer Energie stehen, wobei Wasserkraft 54 % ausmacht. In Brasilien gibt es viele Mega-Wasserkraftwerke, aber auch andere Länder, wie Venezuela und Kolumbien haben hohe Anteile an Strom aus Wasserkraft. An zweiter Stelle beim Ökostrom folgt Europa. In Asien ist Kohlestrom mit einem Anteil von nahezu 60 % noch extrem hoch. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, China und Indien, die auch über große Kohlevorkommen verfügen, beziehen einen großen Teil des Stroms aus Kohlekraftwerken. Die sehr großen Vorkommen von fossiler Energie und die hohen Subventionen für die Energiepreise in Russland, Aserbeidschan, Kasachstan, Turkmenistan usw. haben es bis jetzt verhindert, dass erneuerbare Energieprojekte im Stromsektor hier einen nennenswerten Anteil haben. An letzter Stelle platziert sich der Mittlere Osten, wo der Anteil von Strom aus fossilen Energien 94 % ausmacht. Grund dafür sind vor allem die sehr niedrigen, subventionierten Preise für fossile Energie in den Erdöl- und gasreichen Ländern des Mittleren Ostens. In Italien betrug der Anteil von Ökostrom im Jahre 2019 fast 40 %, das ist deutlich höher als der EU-Durchschnitt. Grund dafür ist auch, dass Italien seit über 3 Jahrzehnten keinen Atomstrom mehr produziert.
Kernenergie trägt rund zehn Prozent zur weltweiten Stromproduktion bei. Von den 33 Staaten, die Kernkraftwerke betreiben, decken allerdings 13 Länder mehr als einen Viertel ihres Strombedarfs mit Kernkraftwerken. Die Diskussion um ihre Zukunft hat begonnen. Der Meraner Physiker Helmuth Thaler studierte am Institut für Ionenphysik der Universität Innsbruck; Andreas Frötscher ist Experte für Elektrotechnik und Elektronik, Michael Cassin schließt heuer die Technologische Fachoberschule in Meran ab: Drei Stimmen, drei Meinungen zur Atomkraft.
Die Atomkraft sei ein Glück für Frankreich, schwärmt Präsident Macron. Zurecht?
Helmuth Thaler: Ich denke, dass zur Bewertung einer derartigen Aussage wie überall Vor- und Nachteile einander gegenübergestellt werden müssen. Der bisher relativ niedrige Preis für Atomstrom ist nur möglich, weil zukünftig anfallende gewaltig hohe Kosten für Demontage und Entsorgung aller Anlagen und Abfälle in die Bilanz nicht mit einbezogen wurden, sondern auf zukünftige Generationen abgewälzt werden. Dass Frankreich sich im Moment nicht allzu sehr bemühen muss, um im Stromversorgungsbereich CO2-neutraler zu werden, ist für das Land natürlich momentan bequem.
Andreas Frötscher: In Frankreich ist die Nuklearindustrie Arbeitgeber für 200.000 Beschäftigte und somit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Zudem ist die Unabhängigkeit im Energiesektor für Präsident Macron ein starkes Zeichen auch politischer Unabhängigkeit. Mit 70% ist der Anteil an Atomenergie in Frankreich so hoch wie in keinem anderen Land der Welt. Und nicht zuletzt befindet sich Macron im Wahlkampf für die im April 2022 stattfindenden Präsidentschaftswahlen, bei dem lediglich die chancenlosen Grünen und Linken gegen einen Ausbau der Atomenergie sind.
Michael Cassin: Frankreich gehört zu den Ländern mit der emissionsärmsten Elektrizität der Welt. Kein Land auf der Welt hat einen so hohen prozentualen Anteil an nuklear erzeugtem Strom wie Frankreich. Das zeigt uns, dass Atomkraft auch im großen Maßstab möglich ist. Frankreich ist zudem auch der größte Stromexporteur Europas. Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass viele der französischen Reaktoren in die Jahre gekommen sind und saniert oder durch neuere, effizientere Reaktoren ersetzt werden müssten.
Brauchen wir Atomkraftwerke, um das Klima zu retten?
Helmuth Thaler: Ich denke, dass in manchen Staaten die bestehenden Atomkraftwerke eine sinnvolle Übergangstechnik bis zur vollständigen Umstellung auf regenerative Energiequellen darstellen können. Sofern die Sicherheitstechnik auf einem hohen Stand, die Entsorgungsfrage geklärt und das geologische Risiko gering sind, halte ich die Atomkraft im Vergleich zu einem bald drohenden Klimakollaps für das kleinere Übel. Die Sinnhaftigkeit eines Neubaus von Anlagen sehe ich hingegen nicht. Sofern bei der Kernfusion in absehbarer Zeit ein Durchbruch gelingt, könnte diese aber langfristig zur Entwicklung einer neuen Generation von Atomkraftwerken führen, die wesentlich umweltfreundlicher als unsere Kernspaltungs-Kraftwerke sind.
Andreas Frötscher: Das hängt ganz davon ab, mit welchen anderen Kraftwerken wir die wirklich klimaschädliche Energiegewinnung aus Erdöl, Kohle und Erdgas ersetzen wollen und ersetzen können. Aus heutiger Sicht wird es wohl keine reale Alternative dafür geben, mit welcher wir es auch in einem zeitlichen Rahmen schaffen, den CO2-Ausstoß der Energiegewinnung drastisch zu verringern. Also ist es mittelfristig und in Verbindung des Ausbaus der Energiegewinnung durch Windkraft, Solaranlagen und Wasserkraft die wohl einzig denkbare Lösung, bis neue Formen der Energiegewinnung zur Verfügung stehen. An der Kernfusion und Fusionsreaktoren, einer aus meiner Sicht sehr klimafreundlichen und sauberen Form der Energiegewinnung, wird bereits seit vielen Jahren geforscht. Allerdings wird diese Entwicklung noch mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.
Michael Cassin: Unser primäres Ziel für die Zukunft ist es, den globalen Ausstoß von Treibhausgasen auf ein Minimum zu reduzieren. Das bedeutet, dass wir die Nutzung von fossilen Brennstoffen beenden müssen. Die Atomkraft ist zwar nicht erneuerbar, aber sie könnte eine Chance sein, die wir nutzen sollten, so lange, bis wir keine bessere Alternative gefunden haben.
Ist Atomenergie wirklich so CO2-arm, wie behauptet wird?
Helmuth Thaler: In der Gesamtbilanz für CO2 steht ein Atomkraftwerk im Vergleich zu herkömmlichen Wärmekraftwerken, die fossile Brennstoffe verbrennen, sicher besser da, im Vergleich zu Wasser-, Wind- und Solarkraftwerken hingegen schlechter. Insofern ist der Sinn von Neubauten heutzutage in der Tat sehr fraglich, zumal auch die Uranvorkommen endlich sind und sowohl die Gewinnung des Urans als auch der aufwendige Rückbau der Kraftwerke nach ihrer Laufzeit Unmengen von Energie benötigen.
Andreas Frötscher: Es ist schwierig eine genaue Studie der CO2-Bilanz der Atomenergie zu finden. Es hängt sehr davon ab, wer eine solche Studie in Auftrag gegeben hat. Aber nach einer mittleren Schätzung liegt sie mit ungefähr 117 Gramm pro kWh für einen gesamten Lebenszyklus eines Atomkraftwerks. Dieser Wert ist ca. 15-mal höher als jener für Windkraft. Wir sollten die Atomenergie allerdings mit den drei größten Energiequellen vergleichen. Erdöl verursacht einen CO2 Ausstoß von ca. 890 g/kWh, Kohle ca. 950 g/kWh und Erdgas 440 g/kWh.
Michael Cassin: Atomenergie ist keineswegs CO2-neutral. Etwa die Hälfte des weltweit geförderten Urans wird in dünn besiedelten Gebieten Kasachstans, Kanadas und Australiens, oft zum Leidwesen der einheimischen Bevölkerung, abgebaut. Allerdings sind die Emissionen bedeutend niedriger als bei fossilen Energieträgern. Ein Braunkohlekraftwerk stößt beispielsweise ca. 100-mal mehr CO2 aus als ein Atomkraftwerk. Zudem, denke ich, ist die Bedrohung durch den Klimawandel viel größer als die einer Nuklearkatastrophe.
Können Wind- und Sonnenkraft denn überhaupt Kohle, Atomkraft und Erdgas ersetzen?
Helmuth Thaler: Das hängt sowohl von der Politik als auch den geografischen Gegebenheiten des jeweiligen Landes ab. Wenn die Politik eine Effizienzsteigerung und Einsparung von Energie in vielen Bereichen nicht nur fördert, sondern erzwingt, denke ich, dass das schon möglich ist. Es braucht dafür aber sicher auch eine große Bereitschaft in der Bevölkerung dazu beizutragen und sich dabei eventuell von einer energieverschwenderischen Lebensweise abzukehren. Außerdem muss es die wirtschaftliche Situation auch erlauben, große Investitionen in den Umbau der Energieversorgung zu tätigen.
Andreas Frötscher: Wenn wir uns die Verteilung der weltweiten Energieerzeugung nach Energieträgern aus dem Jahr 2019 anschauen, stehen Erdöl, Kohle sowie Erdgas mit 81 % der Atomenergie gegenüber. Wir werden es in naher Zukunft, aber auch mittelfristig nicht schaffen, den weltweiten Energiebedarf mit Windkraft, Solarenergie oder Wasserkraft zu decken.
Michael Cassin: Mit dem heutigen Stand der Technik sind wir leider bei weitem noch nicht so weit, dass wir den globalen Energiebedarf rein durch erneuerbare Energien wie Wasserkraft, Windkraft und Solarenergie decken könnten. Parallel zu den erneuerbaren Energien sollten wir daher auch in die Atomenergie investieren. Das Augenmerk sollten wir auf die Reduktion von fossilen Brennstoffen legen.