Nein, in diesem Jubiläumsbeitrag geht es nicht um den Italo-Pop-Hit „Sei un mito“ von „883“ aus dem Jahr 1993. Es ist ein persönlicher Blick auf 50 Straßengeschichten und wie diese im Alltag meinen Blick auf einen Weg von A nach B maßgeblich verändert haben.
Als Josef Prantl, der Schriftleiter der BAZ, Ende 2019 den Vorschlag machte, einseitige Beiträge zu den Straßennamen im Burggrafenamt zu veröffentlichen, schien mir das eine reizvolle Aufgabe. Allzu oft passiert es, dass man mit den Namen nur wenig anfangen kann, geschweige denn, dass man mehr über den Menschen und seine Leistungen weiß. In Trient zum Beispiel werden auf den Schildern unterhalb des Namens zumindest Beruf und Lebensdaten der Person angegeben. Eine gute Idee, die man auch hierzulande breiter aufgreifen könnte. Seit dem ersten Beitrag über die 30.-April-Straße in Meran hat sich meine Art, durch einen Ort zu gehen oder eine Adresse zu suchen, verändert. Jeder Blick ist gekoppelt an den Gedanken, ob es hinter dem Namen eine besondere Geschichte zu erzählen gibt – was könnte interessant für den Leser sein, was lohnenswert für die Leserin. Doch das bewusste Schauen beschränkt sich nicht allein auf die Namenstafeln am Anfang und am Ende einer Straße. Auf meinem täglichen Weg zur Arbeit ist mir ein Graffiti vor dem Meraner Krankenhaus aufgefallen, auf dem die Zahl 911 kunstvoll gestaltet zu lesen ist. [BILD 1]
Zunächst dachte ich mir nichts dabei. Doch von da an begegnete ich der 911 an vielen anderen Stellen, auf Hauptstraßen, in kleinen Gassen, auf Kinderspielplätzen, manchmal deutlich und schnell sichtbar, manchmal versteckt oder schon verblasst. Mein Interesse war geweckt. Das fühlte sich an, wie ein Thema für eine neue Straßengeschichte. Wer immer hier sein Revier markiert hatte, war ausdauernd und wahrscheinlich nachts unterwegs, um nicht erkannt zu werden. Im Umkreis von Gratsch, in der Innenstadt, in Untermais und der Bahnhofsgegend stößt man überall auf diese Zahl. Umso bemerkenswerter war es, als hinter dem Bahnhof zwischen all den 911en wie aus dem Nichts plötzlich eine 130 auftauchte. [BILD 2]
Ein „Eindringling“?, mein erster Gedanke. In den folgenden Monaten durchwanderte ich Meran auf der Suche nach weiteren Zahlen und begann mich gleichzeitig mit der Graffiti-Kultur zu beschäftigen. Graffitis im modernen Sinn und in der hier vorgefundenen Art gibt es seit etwa 60 Jahren. Die dazu nötige Sprühdose war zwar bereits 1927 erfunden worden, doch benutzte man in der Anfangszeit verstärkt Marker und Filzstifte. Die Idee, seinen Namen anzubringen oder eine Zeichnung zu hinterlassen, ist natürlich so alt wie die Menschheit selbst. Das Wort „Graffiti“ stammt aus dem Italienischen und lässt sich auf das griechische „graphein“ zurückführen, was „schreiben“ und „zeichnen“ bedeutet. Der Begriff benennt demnach ein Kratzbild oder eine in Stein geritzte Zeichnung, womit wohl schon die ersten Höhlenmalereien dazugehören. Als private Inschriften im öffentlichen Raum finden wir sie spätestens im Alten Ägypten, wo neben Segenswünschen und Warenlisten auch allein der Name des Schreibers – wie heute – zu finden ist. Besonders bekannt sind die Graffitis in Pompeji, Herculaneum und Ephesos. Die von mir in Meran gesuchten Schriftzüge sind sogenannte Tags, was man mit „Markierung“ oder „Etikett“ übersetzen kann. Ihre Geschichte führt uns zurück in den Sommer 1971. Damals hatte ein junger, griechischstämmiger Kurier in New York auf seinen Botengängen das Kürzel TAKI 183 an verschiedenen Wänden hinterlassen. Schnell verbreitete sich diese Form des Beschriftens, das Taggen, unter den Jugendlichen der Stadt, ab den 80er Jahren dann weltweit. Dabei handelt es sich lediglich um eine Ausdrucksform von vielen innerhalb der Graffiti-Kultur, die nicht allein eine individuelle Angelegenheit ist. Schließen sich mehrere Writer („Schreiber“) zusammen, bilden sie eine Crew. Die meisten Gruppen verwenden als Namen Buchstabenkombinationen, die eine Abkürzung repräsentieren, oder eben Zahlen, die vorwiegend auf die Postleitzahl des bewohnten Gebietes oder eine Straßennummer verweisen. Neben dem eigentlichen Namen wurden im Laufe der Jahre weitere Elemente hinzugefügt, beispielsweise Sterne, Fragezeichen, Pfeile oder Kronen. Auch starkes Abstrahieren, extremes Verbiegen der Buchstaben und Ineinander-Verschlingen derselben ist üblich, so dass diese oft nur noch von Szenekennern entschlüsselt werden können. Anfangs ging es hauptsächlich darum, den eigenen Schriftzug möglichst oft anzubringen. Später entwickelten die Writer ihren persönlichen Stil und versuchten ihrem Tag ein individuell ausgearbeitetes und wiedererkennbares Aussehen zu verleihen. Dass dies in der Szene zu einem Konkurrenzkampf führte, ist naheliegend, und essentieller Teil dieser Jugendkultur. Wird der eigene Name von anderen überschrieben oder übersprüht, so gilt das als Beleidigung. Doch zurück nach Meran. Neben den Zahlensignaturen 911 (auch 911CREW), 130, 420, 187, 49 und 1312, tauchen vor allem die 669 und 135 auf. [BILD 3 und 4]
Obwohl die 669, wie so Vieles, auch im Bahnhofspark zu finden ist, trifft man sie verstärkt in der Obermaiser Gegend, wo wiederum die 911 seltener vorkommt. Auch einzelne Namen stechen im Wirrwarr der besprühten Müllcontainer, Telefon- und Stromkästen hervor und fühlen sich mittlerweile wie alte Bekannte an, die man immer wieder trifft. Allen voran der im Titel erwähnte MITO, aber ebenso Personen, die sich selbst KAMES, WOKE, ASTRO und BLACK nennen. [BILD 5 und 6]
In ähnlicher Weise hinterlassen Fußball-Fans und andere Gruppen namentliche Spuren ihrer nächtlichen Präsenz: Curva Sud Obermais, Pochi ma buoni, Vecchia brigata und die mysteriösen Kinder von dor Kurstodt. [BILD 7, 8 und 9]
Eines hat mich die Suche nach aufgesprühten Zahlen und Namen gelehrt: Wer mit dafür offenem Auge durch eine Stadt geht, der entdeckt auch viele andere interessante Dinge, an denen man sonst achtlos vorbeigegangen wäre. Wer immer auch MITO ist, der mir als erstes aufgefallen ist, er hat in mir einen Blick geschärft, der verborgene Facetten im urbanen Raum zum Vorschein bringt. Übrigens: Die am weitesten von Meran entfernte Spur, die mir von MITO bisher untergekommen ist, befindet sich südlich von Auer auf dem Tisch eines Rastplatzes.
Christian Zelger