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Schule mal anders

Kritiker sehen in ihren Erziehungs- und Unterrichtsmethoden einen Freibrief für Bequemlichkeit und Anarchie. Verfechter der Reformpädagogik Maria Montessoris dagegen halten sie für die anspruchsvollste kind- und entwicklungsgerechte Form des Lernens und Lebens. Vor 20 Jahren wurde in Meran die „Aktive Montessori Schule mit nicht direktiver Begleitung“ gegründet.
von Josef Prantl

Goldenes Perlenmaterial für Mathematik, Puzzlekarten für Geografie, Wortartensysteme zum Sprachenlernen: „Das Unterrichtsmaterial haben wir so gestaltet, dass es alle Sinne anspricht. Die Mädchen und Jungen sollen das Leben im wahrsten Sinne des Wortes mit den Händen be-greifen lernen“, sagt Renate Kuen.


Renate Kuen gehört zu den Gründungsmitgliedern der Schule und ist deren Schulleiterin. Die gebürtige Riffianerin hat „Lettere“ studiert und lange Zeit an der Gastgewerbeschule Savoy in Meran unterrichtet. Schon bald erkannte sie, dass es sehr schwierig ist, im öffentlichen Schulsystem junge Menschen fürs Lernen zu begeistern. Sie suchte nach Alternativen und stieß auf die Montessori-Pädagogik. Mit Claudia Zwischenbrugger spezialisierte sie sich darin. Die Krankenpflegerin aus Plaus hatte zuvor noch Pädagogik studiert und gehört mit Renate zum Kernteam der „Aktiven Montessori Schule“ in Tscherms. Seit 14 Jahren ist sie auch die Vorsitzende der Sozialgenossenschaft, der Trägerverein der Schule. „Uns gibt es immer noch“, schmunzelt Claudia. Denn der Weg zu einer öffentlich anerkannten Schule war steinig. Als vor 20 Jahren im Liebeswerk in Meran die „Primaria“– so heißt die Unterstufe in der Montessori-Pädagogik – gegründet wurde, brauchte es viel Herzblut und engagierte Eltern.

Mit Kindern neue Wege gehen
Die Idee, eine eigene Schule für ihre Kinder zu gründen, hatten die Kindergärtnerin Evi Spechtenhauser, die Buchhalterin Ingrid Kofler, die Biologin Sabine Senoner. Mit im Boot waren gleich die Chemikerin Stefanie von Pfeil sowie Renate Kuen und Claudia Zwischenbrugger. Das pädagogische Konzept einer „nicht direktiven Begleitung“ wurde erarbeitet, denn Erwachsene sollen nicht Lehrende, Belehrende, sondern Beobachtende des Kindes und dessen Lern- und Entwicklungsprozessen sowie (Lern)-Begleiter sein. Als erste Montessori-Pädagoginnen und Lernbegleiterinnen konnten sie die Grundschullehrerin Elke Valtingojer und die Montessoripädagogin Carmen Gamper gewinnen. Diese wurden von Anfang an von den Eltern in Form eines Elterndienstes unterstützt. Neben Maria Montessori fanden das Denken Jean Piagets, von Rebeca und Mauricio Wild, Emmi Pikler Eingang in das pädagogische Konzept. „Hilf mir, es selbst zu tun“, heißt ein Leitsatz Maria Montessoris. Ziel des individuell ausgerichteten pädagogischen Ansatzes ist es: Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, selbstständig, eigenaktiv, im eigenen Rhythmus Erfahrungen auf vielfältige Art machen zu können, vor allem im Spiel und im konkreten Tun. 2001 konnte der Montessori-Kindergarten im Liebeswerk öffnen, 2003 folgte die Gründung der Schule, 2007 ist sie nach Tscherms gezogen und im Nebengebäude von Schloss Baslan untergebracht. Mittlerweile hat die Sozialgenossenschaft hier ein Zuhause für die Krabbel- und Spielgruppe (gegründet 2007), den Kindergarten und die Schule gefunden. 2016 wurde die Primaria (Grundschule), 2018 die Sekundaria (Mittelschule) von der Deutschen Bildungsdirektion anerkannt.

Der Schlüssel zur Welt
Im Treppenaufgang der Schule hängen die Bilder der 44 Schülerinnen und Schüler, die heuer eingeschrieben sind. Das Schulhaus wurde in den vergangenen Jahren mit viel Liebe auf Vordermann gebracht, „denn die Lernumgebung ist wesentlich fürs Lernen“, sagt Renate Kuen. „Vorbereitete Umgebung“ heißt es bei Montessori. Die Gestaltung der Einrichtungen, der Räume geht von den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen aus. Die Lernbegleiterinnen schaffen eine Umgebung, die dem Entwicklungsstand der Kinder gerecht wird. Die Materialien haben einen feststehenden Platz und sind so beschaffen, dass die Kinder sie ohne Hilfe erreichen und an den Arbeitsplatz tragen können. Zur vorbereiteten Umgebung gehören aber nicht nur in offenen Regalen angebotene Entwicklungsmaterialien, sondern ebenso eine angenehme, entspannte Atmosphäre, in der sich alle, Kinder und Erwachsene, wohl fühlen. Die Rolle der Lernbegleiterin in der Montessori- Pädagogik ist in erster Linie eine beobachtende und unterstützende.

Schulerfahrungen
Maria Montessori war überzeugt davon, dass der Zugang zum kindlichen Denken nicht auf abstraktem Wege, sondern grundsätzlich über die Sinne des Kindes erfolgen muss. Greifen und Begreifen sind für sie im Lernprozess untrennbar miteinander verbunden, ist Renate Kuen überzeugt. Die Lernmaterialien stehen den Kindern frei zur Verfügung – die Kinder wählen sich das Material, mit dem sie arbeiten bzw. spielen möchten, selbst aus. „Am besten und leichtesten lernen Kinder durch selbsttätiges Handeln“, ist Claudia Zwischenbrugger überzeugt. Für diesen individuellen Lernprozess entwickelte Maria Montessori spezielle Arbeitsmaterialien, die dem Forschungsdrang des Kindes gerecht werden. Das eigenständige Lernen und Arbeiten sowie das Spielen sind das Herzstück der Aktiven Montessorischule. Schülerinnen und Schüler arbeiten in jahrgangsgemischten Gruppen. Dadurch soll nicht nur Individualität gefördert, sondern durch die Zusammenarbeit mit anderen das soziale Miteinander gestärkt werden. Das Prinzip: Die Kleinen lernen von den Großen und auch umgekehrt.
„Ganz wichtig ist uns auch die Zusammenarbeit mit den Eltern“, betont Claudia Zwischenbrugger. Die Leitgedanken der Montessori-Pädagogik von Selbstständigkeit, Selbsttätigkeit und Eigenverantwortung, Freiheit innerhalb klarer Grenzen, Respekt, Achtsamkeit und Wertschätzung gegenüber allen Mitmenschen und der umgebenden Natur hören nämlich an der Schultür nicht auf zu gelten. Sie müssen zu Hause mitgetragen werden und so ist es selbstverständlich, dass Eltern an der Schule hospitieren, sich mit den pädagogischen Inhalten auseinandersetzen, an den regelmäßigen themengebundenen Elternabenden teilnehmen und die Elterngespräche (ähnlich den Elternsprechtagen) wahrnehmen. Hausaufgaben und Noten gibt es übrigens nicht, dafür aber am Ende des Schuljahres einen umfangreichen pädagogischen Bericht – das sogenannte Pensenbuch, das den Entwicklungsstand des Kindes wiedergibt.

Mathematik und Geografie selbstständig lernen

Claudia Zwischenbrugger (l) und Renate Kuen (r)

Wie geht es weiter?
Um ein staatliches Mittelschuldiplom zu erhalten, treten die Absolventinnen und Absolventen der „Aktiven Montessori Schule“ als externe Kandidatinnen und Kandidaten zur Prüfung an. Sie schaffen diese Prüfung, beweisen die Zahlen. Danach geht es an einer öffentlichen Oberschule weiter oder man schreibt sich in die Berufsschule oder auch Abendoberschule ein. „Einen nahtlosen Über­gang an die Oberschule gibt es aber lei­der nicht, auch wenn wir als Schule anerkannt sind“, bedauert Claudia Zwischenbrugger. Dass die Schule einmal gleichgestellt wird, ist eine Vision der Vorsitzenden.

Kritik
Das Montessori-Konzept unterscheidet sich deutlich von den herkömmlichen Unterrichtsmethoden, auch wenn Leitgedanken wie selbstständiges Lernen, die Förderung von Schlüsselkompetenzen, die Abkehr vom Frontalunterricht, Inklusion usw. in der Pädagogik der öffentlichen Schule immer wichtiger werden. Die Montessori-Kindergärten und -schulen bilden aber eine klare Alternative zu den staatlichen Angeboten. Der Übergang in eine öffentliche Oberschule stellt auch eine Herausforderung an die Jugendlichen dar.

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir

Man sollte sich von der Montessori-Pädagogik nicht das pädagogische Heil versprechen, lautet die Kritik. Denn: Vor allem gute Lehr­personen machen den Erfolg einer Schule aus, weniger die pädagogischen Methoden.
Die BAZ sprach mit Gianluigi Di Gennaro, langjähriger Italienisch­lehrer und Leiter des „Netzwerkes Nachhaltiger Schulen Meran“.

Prof. Gianluigi Di Gennaro

„Den Kindern und Jugendlichen wird die Lust am Lernen in der Schule ausgetrieben.“ So lautet die Kritik am öffentlichen Schulsystem. Zurecht?
Gianluigi Di Gennaro: Nein. Ich glaube nicht, dass man das so allgemein sagen und vereinfachen kann. Die heutige öffentliche Schule versucht, auch dank der neu­en Technologien, mit der Zeit Schritt zu halten und sich von der „alten Schule“ zu entfernen, in der der Schüler oft unkritisch gelernt hat und der frontale Unterricht im Mittelpunkt des Lernprozesses gestanden ist. Heute konzentriert sich die öffentliche Schule stark auf die Autonomie des Lernenden, die Differenzierung, die Inklusion, das Kind wird nicht nur in den Mittelpunkt des Lernprozesses gestellt, sondern auch mit der Realität außerhalb der Schule konfrontiert.

Die Schriften der Maria Montessori sind über 100 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich ja viel verändert in unserer Welt. Wo sehen Sie den größten Reformbedarf in unserem Schulsystem?
In einer Welt, in der sich alles sehr schnell ändert und in der, was vor fünf Jahren relevant war, heute überholt ist, fällt es sehr schwer zu sagen, in welche Richtung die Schule gehen soll. Sie muss auf jeden Fall soziale Kompetenzen vermitteln, Grundwerte für das Zusammenleben. Kritisches Denken, Respekt für andere, Toleranz, Sensibilität für Nachhaltigkeit sind zweifellos Ziele, die die Schule von heute im Auge behalten muss. Deshalb habe ich mich über die Wiedereinführung des Lernbereichs „Gesellschaftliche Bildung“ gefreut, ein Fach, das so viele Bereiche umfasst: von der Erziehung zur Legalität bis zum Umweltschutz, von der Entwicklung des europäischen Bürgers bis zur Achtung der kulturellen Unterschiede. Die Schule muss sich auch mit dem Thema „Künstliche Intelligenz“ kritisch auseinandersetzen, um zu vermeiden, dass diese falsch eingesetzt wird und um die Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, für das Lernen zu nutzen. Viele meinen, dass in der heutigen Schule Lerninhalte gelehrt und gelernt werden, die später nie mehr gebraucht werden. Ich bin aber überzeugt, dass Philosophie, Geschichte, Logik, Kunst usw. für die Lösung unserer Probleme in Gegenwart und Zukunft mehr denn je gebraucht werden.

Wie denken Sie über den Verzicht auf Schulnoten, Hausaufgaben, auf Vorgaben durch die Lehrperson, wie es die Reformpädagogik handhabt?
Ich bin diesbezüglich sehr skeptisch. In der Lebensrealität außerhalb der Schule ist man mit ständigem Feedback konfrontiert, mit Vorgaben, Regeln, mit Erfolgen und Misserfolgen. Die Schule muss die Lernenden auf die Welt von da draußen vorbereiten. Eine Note muss nicht als eine Strafe oder eine Belohnung verstanden werden, sondern als Feedback für die geleistete Arbeit. Eine negative Note ist nicht eine Niederlage, sondern eine einfache Botschaft an den Schüler, dass bei der Vorbereitung etwas schiefgelaufen ist. Es ist natürlich Aufgabe der Lehrperson, negative Noten mit den Schülern zu besprechen, ohne dass sie zu einem Stigma werden. Was die Hausaufgabe anbelangt, dient diese der Festigung des Er­lernten und soll sinnvoll und mä­ßig sein. In Zeiten von Chat GPT und Photomath muss sich die Lehrperson natürlich überlegen, welche Hausaufgaben sinnvoll sind.

Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht mehr der Gegenstand des Unterrichts, das Kind mit seinen Bedürfnissen, seiner unendlichen Kreativität, seinen spontanen Lernbedürfnissen. Was ist daran falsch?
Ich stimme vielen Ansätzen der Montessoripädagogik zu, wie der Inklusion, dem selbstständigen Lernen, der Kreativität usw. Ich sehe jedoch eine große Kluft zwischen der Montessori-Schule und der realen Welt. Die Montessori-Schule verzichtet auf Regeln, die für die traditionelle Schule kennzeichnend sind, wie die Einhaltung der Abgabezeit einer Aufgabe, die Durchführung einer bestimmten Tätigkeit, die gezielten Leistungskontrollen. In der realen Welt hingegen wird ständig verlangt, sich dem Rhythmus der Gesellschaft anzupassen und auch Aufgaben auszuführen, die man nicht mag. Und genau da gerät die Montessori-Pädagogik in eine Sackgasse. Besonders in früheren Lebensjahren braucht das Kind Führung und soll lernen, sich in den verschiedenen Situationen zurecht zu finden; auch Aufgaben erledigen, die es nicht so mag, die aber wichtig für die Entwicklung von Fertigkeiten und Kompetenzen sind. Es ist klar, dass der Lernprozess behindert wird, wenn ein Schüler nur das übt, was er mag. Früher oder später werden die fehlenden Kompetenzen ersichtlich. Aufgabe der Schule ist es, alle Mittel zur Verfügung zu stellen, die es dem Kind ermöglichen, persönliche Schwierigkeiten zu überwinden. Ich rede von einer inklusiven Schule, welche die Bedürfnisse des Schülers erkennt und respektiert, seine Selbstständigkeit fördert, seine Stärken unterstützt, ihm Mittel gibt, die Anforderungen der heutigen Welt zu bewältigen.

Schüler brauchen Rückmeldung

Wird es in Zeiten von Google den Lehrer, die Lehrerin denn noch brauchen?
Mehr denn je! Die Aufgabe der Lehrperson ist und bleibt in erster Linie kritisches Denken bei den Schülern zu entwickeln und hierbei können Google, Chat GPT und alle anderen Formen künstlicher Intelligenz den Lehrer niemals ersetzen. Natürlich muss jede Lehrperson mit der Zeit gehen und mit den neuen Technologien vertraut sein, gerade um sie zu beherrschen und sie in den Prozess der Entwicklung des kritischen Denkens einzubeziehen.