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Unser Seelenleben

Wenn die Tage kürzer werden, schlägt das auf die Stimmung. Die sogenannte „Winterdepression“ ist keine faule Ausrede. Heute weiß die Wissenschaft, dass die mangelnde Lichtintensität im Gehirn mehr Melatonin produziert. Das erklärt dann auch, warum man in den Wintermonaten müder und schneller verstimmt ist.
von Josef Prantl

Angststörungen, Depressionen, Magersucht, Suizidgedanken … auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Psychische Erkrankungen zählen zu den großen Volkserkrankungen. Nach dem Herzinfarkt ist Depression die häufigste Erkrankung in der westlichen Welt. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Corona-Pandemie zu einem starken Anstieg psychischer Erkrankungen geführt. „15 bis 20 Prozent aller Menschen werden im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkranken, das sind 1,3 Milliarden Menschen. Und jede psychische Erkrankung zieht durchschnittlich sechs weitere Personen in Mitleidenschaft. Es ist wichtig, mehr darüber zu wissen, um sich besser zu schützen“, fordert der Brixner Psychiatrie-Primar Roger Pycha. „Die Förderung der psychischen Gesundheit muss ein ganz zentrales Anliegen unserer Gesundheitspolitik sein“, betonte Richard Theiner bereits 2009. „Am wertvollsten aber ist das Wissen, dass psychische Erkrankungen auch heilbar sind – umso besser, je früher Hilfe gesucht und angenommen wird“, so der damalige Gesundheitslandesrat.

Die große Hilflosigkeit
„Ich fühle mich wie ein Hamster, der sich im Rad dreht, bis er draufgeht. Er kommt nicht raus aus dem Hamsterrad“: So beschreibt R. (35 Jahre) ihre Lebenssituation. Sie hat alles schon versucht: Psychiatrie, Bad Bachgart, Psychotherapie … Seit der Erkrankung hat sie mit den meisten sozialen Kontakten gebrochen. Einsamkeit, Ängste, Alpträume, Schuldgefühle und fehlendes Selbstwertgefühl plagen sie täglich. Jeder Tag kann zum Zusammenbruch führen. Wie so ein Leben aushalten? Ähnlich ergeht es M. (58 Jahre). „Da gibt es Tage, an denen alles perfekt läuft, dann wieder Wochen der Traurigkeit und Hilflosigkeit“, sagt er. Helfen kann ihm scheinbar nur der Alkohol. Ohne Betäubung der negativen Gedanken würde M. sein Leben nicht mehr aushalten. M. hatte eine schwere Kindheit, war kein Wunschkind, im Gegenteil, wuchs im Heim auf, bis heute hat er keinen Kontakt zu seiner Mutter, der Vater hat sich erhängt. „Wie kann man so vor sich Selbstachtung haben?“, fragt M.

Das Stigma
Psychische Erkrankungen sind in unserer Leistungsgesellschaft stark stigmatisiert. Betroffene schämen sich, leiden unter Schuldgefühlen oder glauben, versagt zu haben. Das hängt mit dem Tabu zusammen. Niemand schämt sich wegen einer Grippe. Wenn man sich ein Bein bricht, erhält man meist Verständnis und Unterstützung. Wenn man aber sagt, dass es einem psychisch schlecht gehe, stößt man oft auf Unverständnis, viele wenden sich dann ab. „Bei psychischen Störungen war die Scham schon immer das große Hindernis“, bestätigt Roger Pycha. Betroffene empfinden die eigene Depression oder Angststörung wie eine eigene Schuld, und möchten ihre Schwäche verstecken. Sie haben einfach Angst, in der Folge nicht mehr für voll genommen zu werden.

Wann ist man psychisch krank?
Es kann jeden von uns treffen und es ist mehr eine Frage des Schweregrads, wie wir seelisches Leid erfahren. Das winterliche Stimmungstief zum Beispiel kehrt alle Jahre wieder, beginnt in den Herbstmonaten und endet im Frühjahr. Seine Verbreitung ist eng mit den Lichtverhältnissen in verschiedenen Breitengraden verknüpft. Skandinavier trifft es weit häufiger als uns Mitteleuropäer, Südeuropäer fast gar nicht. Ein gelegentliches Stimmungstief gehört aber zum Leben dazu und ist noch keine Depression im klinischen Sinn. „Trotzdem ist der winterliche Arbeits- und Schulrhythmus nicht ideal“, sagt der Naturnser Psychologe Hartmann Raffeiner. Es fehle einfach das Tageslicht. Die Liste psychischer Erkrankungen ist lang und umfasst verschiedene Störungsbilder, die in unterschiedlichen Schweregraden auftreten: Depression, Angststörung, Psychose und Neurose, Magersucht und Bulimie, Bipolare Störung, Panik, Agoraphobie und soziale Phobie, Schlafstörung, Zwangsstörung, um nur die wichtigsten zu nennen.

Im Hamsterrad
„Wenn ein Mensch in seinen Beziehungen zu anderen merkt, dass diese ihn nicht mehr verstehen und umgekehrt auch sie von ihm nicht mehr verstanden werden, dann könnte man das als psychische Erkrankung definieren“, erklärt eine Betroffene. Wer daran leidet, weiß oft weder sich selbst noch anderen zu erklären, was mit ihm geschieht: und wer nichts mehr versteht, kann sich auch selbst nicht mehr verständlich machen. Die Symptome einer psychischen Erkrankung sind nicht nur körperlich erkennbar (Schlafstörungen, Herzrasen, Appetitlosigkeit, Essattacken …), sondern verändern das Gefühlsleben (Panik, Angst, Hilflosigkeit, Angespanntheit, Ausweglosigkeit …), die Denkebene (Schwarz-Weiß-Sehen, Flucht in Traumwelten, engstirniges Denken, Konzentrationsschwierigkeiten …) und das Verhalten (sprunghaft, Rückzug, verändertes Essverhalten, Isolation, Gewalt gegen sich selbst …). „Die zwei Grundsymptome zur Erkennung einer Depression sind mindestens zwei Wochen lang bestehende dauerhafte Niedergeschlagenheit und der Verlust der psychischen Energie, dann fehlt oft auch die Kraft zu kleinsten Entscheidungen, und die angenehmsten Beschäftigungen werden mühsam“, erklärt Pycha. Was viele nicht wahrhaben wollen: so wie der Körper erkranken kann, kann auch die Seele krank werden. Vor allem in Zeiten starker Belastung. Häufige Reaktionen sind dann Gefühle der Traurigkeit, Angst oder innere Anspannung, die für eine begrenzte Zeit auch sehr stark sein können. Diese Beschwerden verschwinden in der Regel nach einer gewissen Zeit. Wenn sie doch länger andauern oder weitere dazukommen – etwa Panikattacken, Suizidgedanken, Selbstverletzung oder Wahn – und zu immer größeren Problemen im Alltag führen, dann sprechen wir von einer ernstzunehmenden psychischen Erkrankung. Die Diagnose ist beileibe nicht so einfach wie bei einem Knochenbruch.

Ursachen und Behandlung
Es gibt viele Ursachen, das können auch biologische oder genetische Faktoren sein. Meist sind es aber belastende Lebenserfahrungen. Dabei ist das nicht für jeden gleich, für manche Menschen können normale Alltagsanforderungen schon eine Überforderung darstellen, andere Menschen geraten erst bei extremer Belastung oder Traumatisierung in psychische Krisen. Die sogenannte Vulnerabilität (=Anfälligkeit oder Verwundbarkeit) ist sehr subjektiv. Bei einigen psychischen Erkrankungen konnten Störungen des Hirnstoffwechsels festgestellt werden. Ist dies der Fall, können Medikamente (sogenannte Psychopharmaka) zum Einsatz kommen, die mehr oder weniger gezielt in den Hirnstoffwechsel eingreifen. Vereinfacht gesagt gleichen Psychopharmaka ein bestehendes Ungleichgewicht, einen Mangel oder einen Überschuss an Botenstoffen im Gehirn (sogenannte Neuro­transmitter, z. B. Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin) aus. Einige Psychopharmaka haben eine direkte Wirkung (z. B. Beruhigungsmittel), bei anderen Psychopharmaka ist die Wirkung erst nach einer gewissen Verzögerung für den Patienten spürbar, da längerfristige Veränderungen im Hirnstoffwechsel nur langsam eintreten (z.B. bei Antidepressiva). Dabei kann es wie bei allen Medikamenten zu Nebenwirkungen kommen. Diese Gefahr besteht bei der sogenannten Psychotherapie nicht. Bei dieser Art der Behandlung der Seele gibt es mehrere Therapieformen, wie z. B. die Kognitive Verhaltenstherapie, die Psychoanalytische Therapie, Gesprächstherapie, Systemische Familientherapie …

Die seelische Gesundheit stärken
Vorsorge und ein gesunder Lebensstil können schützen. Die beste Vorsorge ist, zu lernen auf sich zu achten. Achtsam mit seinem Körper und seinen Ressourcen zu sein. Wichtig ist, ein Bewusstsein zu entwickeln, wann mir etwas zu viel wird und dann frühzeitig etwas dagegen zu tun. Positives Denken und eine positive Selbstwahrnehmung stärken die Resilienz. Familie, gute Freunde, Menschen, mit denen man sich austauscht, gemeinsam Schönes erlebt und sich in schwierigen Zeiten gegenseitig unterstützt, stabilisieren die psychische Gesundheit.
Und wer ernsthaft psychisch erkrankt, sollte sich nicht schämen, professionelle Hilfe anzunehmen. Prävention und Früherkennung von psychischen Erkrankungen müssen in allen Lebensbereichen gestärkt werden. Die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen muss weiterentwickelt werden. Dazu gehört ein niederschwelliger und wartezeitenfreier Zugang zu Diagnostik und Therapie. Psychisch erkrankte Menschen brauchen eine kontinuierliche Beratung und Betreuung durch die gleichen Ärzte und Therapeuten. Eine zentrale Rolle kommt den Hausärzten zu. Doch viele Hausärzte besitzen keine Ausbildung in Psychologie oder Psychiatrie. Niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangebote sind ebenso wichtig wie gute Netzwerkarbeit von Psychiatern und Psychologen.

Der englische Gelehrte Robert Burton (1570 -1640), der selbst an Depressionen litt, hat bereits im 17. Jahrhundert in seinem Buch „Anatomie der Melancholie“ sehr gute Rezepte für psychische Gesundheit genannt: gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf, eine sinn­erfüllte Arbeit, ein starkes soziales Netz und Menschen, denen man sich anvertrauen kann. Denn die Pflege der psychischen Gesundheit ist genauso wichtig wie die Pflege der körperlichen Gesundheit.

 

Seelische Krisen gehören zum Menschsein

Nicht wegschauen, wenn man merkt, dass ein Angehöriger, Freund, Kollege seelisch leidet, in einer Krise steckt. „Ihn liebevoll darauf ansprechen und darauf hinweisen, dass es Hilfe gibt“, sagt Walburga Pichler Wild. Das erfordert aber auch Mut. Je früher man Hilfe sucht, desto einfacher ist es oft, Probleme zu bewältigen und eine positive Veränderung herbeizuführen.

Die BAZ sprach mit der Psychologin und Psychotherapeutin.

Frau Pichler Wild, welche Menschen kommen zu Ihnen?
Ganz unterschiedliche Menschen mit kleineren und größeren seelischen Leiden. Menschen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, die ihren Platz im sozialen Gefüge nicht mehr finden, die mit ih­rem Leben nicht mehr zurechtkommen, ohne zu wissen warum. Menschen, die traumatisiert sind, die ein Suchtproblem haben, die jemanden brauchen, dem sie sich anvertrauen und mit dem sie über ihr Leid sprechen können.

Ist es ein großer Schritt, zum Psy­chologen zu gehen?
Grundsätzlich ist es für die meisten ein großer Schritt, zum Psychologen zu gehen. Der Leidensdruck muss schon sehr groß sein. Es gibt schon einige, die bewusst über ihr Leben nachdenken und das Unbewusste bewusst machen wollen. Aber wie gesagt, für viele ist es eine Überwindung, psychologische Hilfe anzunehmen.

Walburga Pichler Wild

Erst die Corona-Pandemie, jetzt der Krieg in der Ukraine und in Palästina. Alles Ereignisse, unter denen viele Menschen leiden. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Corona, die Kriege in unmittelbarer Nähe, auch die Klimakrise und die Spaltung in der Gesellschaft machen vielen Angst, schaffen Unsicherheit, machen hilflos, traurig. Das Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit ist größer geworden. Gerade bei Menschen, die ohnehin schon ängstlich sind, verstärken sich diese Gefühle. Auch unser Lebensstil, wie beispielsweise der Druck, ständig erreichbar zu sein, die Informationsüberflutung durch digitale Technologien und wirtschaftliche Unsicherheit wirken auf das seelische Gleichgewicht. Paradoxerweise kommt es in der heutigen digital vernetzen Welt häufiger auch zu sozialer Isolation.

Ist die Widerstandskraft der Menschen heute geringer?
Ich glaube, dass die Resilienz bei jungen Menschen geringer geworden ist. Es fällt ihnen schwerer zu verzichten, mit weniger aus­zukommen. Bei den Älteren ist die Sorge um das, was kommen wird, größer geworden. Widerstandsfähigkeit kann aber auch erlernt und entwickelt werden. Wir können Strategien erlernen, die uns gegenüber den Belastungen des modernen Lebens widerstandsfähiger machen.

Mit welchen psychischen Erkrankungen haben Sie in Ihrer Arbeit zu tun?
Zu mir kommen Menschen mit den unterschiedlichsten psychischen Störungen. Das reicht von Depressionen, Zwängen, Süchten, Ängsten, eigentlich alles, was Menschen belastet. Aber auch Schmerzpatienten oder Menschen mit palliativen Diagnosen kommen zu mir. Aktuell begleite ich häufig Menschen mit Zwangsstörungen, Depressionen, Menschen, die Schwierigkeiten mit ihrer veränderten Lebenssituation haben, z. B. mit der Pensionierung, Menschen mit problematischen Beziehungs- und Partnerschaftsgeschichten oder Kinder und Jugendliche, die sich nicht mehr zu Leistungen motivieren lassen.

Wie lässt sich eine psychische Erkrankung in einfachen Worten erklären? Es gibt immer noch Menschen, die psychische Erkrankungen nicht als Krankheit anerkennen. Ab wann bin ich psychisch nicht mehr gesund?
Wir sprechen von einer psychischen Erkrankung, auch psychische Störung genannt, wenn das Denken, Fühlen oder Verhalten einer Person beeinträchtigt ist, wenn der Leidensdruck so groß wird, dass es zu körperlichen Be­schwerden kommt, ohne dass es organische Ursachen gibt; wenn sich das Denken nur noch im Kreis dreht. Es ist wichtig zu verstehen, dass psychische Erkrankungen genauso ernst zu nehmen sind wie körperliche Krankheiten und dass Hilfe und Unterstützung verfügbar sind.

Psychisch erkrankte Menschen haben oft mit Stigmatisierung und Ausgrenzung zu kämpfen. Wird es eines Tages genauso normal sein, sich wegen psychischer Erschöpfung drei Tage krankschreiben zu lassen wie wegen einer Erkältung?
Es ist wichtig, diese Vorurteile und Stigmatisierung zu bekämpfen, um eine unterstützende und inklusive Gesellschaft zu schaffen. Glücklicherweise ist es mittlerweile selbstverständlich, dass man z. B. wegen eines Burnouts oder eines depressiven Einbruchs auch krankgeschrieben wird. Menschen in psychischen Krisen mit Empathie und Verständnis zu begegnen, sollte selbstverständlich sein.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Die Wahl der richtigen Behandlung hängt von der individuellen Situation ab, und oft ist eine Kombination mehrerer Ansätze am effektivsten. Bei den häufigsten psychischen Störungen wird zweigleisig gefahren: medikamentös, bis das „System“ wieder einigermaßen funktioniert, und parallel dazu Psychotherapie. Bei manchen Störungen reicht auch nur eine Psychotherapie, bei anderen hingegen muss eine Behandlung medikamentös erfolgen. Schizophrenie oder Bipolarität zum Beispiel kann nicht nur psychotherapeutisch behandelt werden. In schweren Fällen, in denen die Sicherheit des Patienten oder anderer gefährdet ist, ist eine vorübergehende Hospitalisierung erforderlich. Selbsthilfegruppen sind hilfreich, sie bieten Menschen mit ähnlichen Problemen die Möglichkeit, sich auszutauschen und Unterstützung zu finden. Einige Menschen finden Er­leichterung durch alternative Therapien wie Kunsttherapie, Musiktherapie, Tiertherapie oder Entspannungstechniken. All das kann eine Ergänzung zur professionellen Behandlung sein.

Mehr Menschlichkeit in die Tat umsetzen

Der langjährige Kinderarzt Martin Achmüller gehört zu den Vorreitern, wenn es um die Betreuung und Versorgung psychisch erkrankter Menschen in Süd­tirol geht. Selbst betroffen setzt er sich seit Jahrzehnten für sie ein.

„Psychische Krankheiten gibt es nicht. Das sind alles nur Menschen, die ihr Leben nicht im Griff haben!“ Was antworten Sie?
Wer so etwas sagt, hat keine Ahnung von psychischen Krankheiten.

Wir hören und lesen es immer wieder: Psychische Erkrankungen nehmen zu. Aber warum ist das so, bei all dem Wohlstand, der uns umgibt?
Der „Wohlstand“ gibt uns noch lange nicht den wahren SINN DES LEBENS, sondern eher den Wunsch nach „immer mehr, immer weiter, immer schneller“. Ein wenig spielt auch mit eine Rolle, dass man sich eher überwindet oder traut, bei psychischen Erkrankungen Hilfe zu suchen.

Martin Achmüller

Können Sie am Beispiel der Alkoholsucht erklären, was unter einer psychischen Krankheit zu verstehen ist? Für viele ist das doch eher Charakterschwäche?
Mit Alkohol versuchen sehr viele Menschen, ihre tiefen „-losigkeiten“ zu „ertränken“ (wörtlich genommen): Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit … – Alkohol gilt als die am häufigsten verwendete psychoaktive Substanz, die bei (psychischen) Problemen verwendet wird.

Bei einem Beinbruch weiß man, was zu tun ist, und bei einer psychischen Erkrankung?
Bei einem Beinbruch sieht man etwas (mindestens im Röntgenbild). Für die „gebrochene“ Seele gibt es kein entsprechendes „bildgebendes“ Verfahren und kaum Verständnis für eine geringere Leistungsfähigkeit und die weit längere Zeit für Behandlung und Rehabilitation (eher Jahre).

Ist eine psychische Erkrankung überhaupt heilbar?
Sie sind auf jeden Fall behandelbar! Wenn etwas nach Monaten bzw. Jahren wieder auftritt, kann es viele Faktoren geben, die mitspielen. Eine neue „Episode“ braucht also neue Hilfe (gleich wie bei einem Beinbruch).

Welche Rolle spielt die frühe Kindheit?
Sie kann bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung mitspielen, genauso wie es viele andere „be­lastende“ Faktoren gibt. Es gilt, sie in Betracht zu ziehen und genauso aufzuarbeiten wie alle anderen.

Was kann man tun, wenn jemand, der an Magersucht, Depression oder einer bipolaren Störung leidet, partout nicht bereit ist, Hilfe zu anzunehmen?
Geduld haben, versuchen zu verstehen, die richtigen Worte zu finden, vielleicht auch jemand einbeziehen, der etwas Derartiges erlebt hat, zu dem der andere Vertrauen aufbauen kann. Es gibt auch Anlaufstellen und Beratungsstellen für die Angehörigen. Gegenfrage: was kann man tun, wenn jemand irgendeine Krankheit hat (auch „ehrenwerte“ wie Krebs …) und nicht bereit ist, Hilfe anzunehmen?
Betroffene fürchten unerwünschte Nebenwirkungen bei Psychopharmakatherapien oder Abhängigkeit als Folge. Ist diese Sorge berechtigt?
Medikamente werden wegen der Wirkung verschrieben, nicht wegen der Nebenwirkungen. Gerade deswegen sollen ja Fachleute beraten und helfen. Bei Nebenwirkungen wird man entscheiden, ob ein anderes Medikament sinnvoller ist. Eine Abhängigkeit (wie z. B. bei Alkohol oder anderen Drogen) ist praktisch nicht mehr zu erwarten. Aber aufgepasst: Beruhigungsmittel, Schlafmittel sind nicht die klassischen Psychopharmaka! Und wenn ich das, was mich überfordert, verzweifeln lässt …, nicht in den Griff bekomme und deshalb meine Medikamente weiternehme, dann bin ich nicht von den Medikamenten ab­hängig, sondern von meiner Lebenssituation.

Sie setzen sich seit Jahrzehnten für eine gute Betreuung psychisch kranker Menschen ein. Sind die diesbezüglichen Dienste und Angebote ausreichend?
Es fehlt am Fachpersonal, an Anlaufstellen (nicht nur Betreuungseinrichtungen, sondern auch „am­bulante“ Versorgung), an der Bereitschaft, für psychisch Erkrankte all das zur Verfügung zu stellen, was von der Medizin und von den Menschenrechten her „notwendig“ wäre, am Abbau der Ausgrenzung von psychisch kranken Menschen, (man akzeptiert „psychische Krankheiten“ etwas mehr als früher, aber kaum die „psychisch Kranken“!). Eine psychische Erkrankung ist nach wie vor eher eine Schande, jedenfalls keine „ehrenhafte“ Krankheit.

Berücksichtigung der Einzigartigkeit des Patienten, Konzentration auf einen Netzwerkansatz in der Versorgung und stärkere Einbeziehung der Organisationen, lauten die Forderungen von Patien­tenorganisationen. Was ist konkret darunter zu verstehen?
Wer wird wohl am besten Bescheid wissen über das, was psychisch erkrankte Menschen brauchen? Ganz sicher Betroffene, An­gehörige, fachlich ausgebildetes (Pflege-)Personal – also müssen die angehört und ernst genommen werden. Große Versprechungen ohne Taten enttäuschen noch mehr und lassen noch leichter verzweifeln.

Wie kann man vorbeugen? 
Wenn „die Menschheit“ lernt, ernst nimmt, bereit ist, nicht Erfolg und Leistung an die erste Stelle zu setzen, sondern ein „Wohlfühlen“ auf anderer Ebene, ein Zulassen von Gefühlen (auch von negativen). Die Menschheit bräuchte mehr Menschlichkeit. Wie dies dann aussehen könnte, darf nicht nur Theorie bleiben, sondern muss versucht werden!