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Streiks und Schützengräben

Die Geburtsstadt des französischen Philosophen René Descartes heißt seit 1967 nach ihrem berühmtesten Sohn. Auch der kleine italienische Ort Pausula hat seinen Namen abgelegt und wurde 1931 zu Ehren des Gewerkschafters Filippo Corridoni in Corridonia umbenannt. Dagegen ist eine Straßenwidmung in Sinich fast schon eine Kleinigkeit.

„Der Name Filippo Corridonis ist in die Geschichte eingegangen. Der Name wird noch länger dauern als das Erz, das ihn auf dem Platze seines Geburtsortes darstellt. Filippo Corridoni, Tribun des Intervents, glühender Apostel jener höheren sozialen Gerechtigkeit, die das Evangelium des Fa­schismus ist, Soldat des Vaterlandes, Held des Sieges, sein Opfer repräsentiert die vollendete Synthesis dieser beiden Elemente, die wenn sie sich finden, unbesiegbar sind: Volk und Vaterland.“ Diese schwülstigen Worte stammen aus dem Munde Benito Mussolinis, der im Oktober 1936 in Corridonia ein Bronzedenkmal enthüllt hatte.

Ein unruhiges Leben
Filippo Corridoni wurde am 19. August 1887 in Pausula, einem kleinen Ort in der Provinz Macerata in den Marken, als Sohn einer einfachen Arbeiterfamilie geboren. Ein Großonkel, der Franziskaner war, unterstützte seine Ausbildung. Nach Abschluss am Istituto Superiore Industriale in Fermo zog er 1905 nach Mailand, um dort im Metallurgie-Unternehmen Miani-Silvestri als technischer Zeichner zu arbeiten. Durch die Lektüre von Giuseppe Mazzini, Karl Marx und George Sorel wurde sein politisches Interesse geweckt. Zunächst schloss er sich den Sozialisten an, wandte sich dann aber dem radikalen Syndikalismus zu. Dieser sieht sich als Weiterentwicklung sozialistischer Ideen und befürwortet die Aneignung von Produktionsmitteln durch die Gewerkschaften. An die Stelle parlamentarischer Arbeit setzt er Streik, Boykott und Sabotage. Corridoni war ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Rechte der Arbeiter und auch bereit für seine Ideale mehrfach ins Gefängnis und ins Exil zu gehen. Zunächst tauchte er in Frankreich, dann in der Schweiz unter. Es gelang ihm jedoch unter dem Pseudonym Leo Celvisio nach Italien zurückzukehren und Streiks zu organisieren. Er war darüber hinaus journalistisch und als Vorsitzender der „Unione Sindacale Milanese“ politisch tätig. Seine Schrift „Gedanken zur Sabotage“ brachte ihn erneut in Haft. 1914 – der Erste Weltkrieg tobte bereits – war Italien gespalten. Die eine Seite wollte die italienische Neutralität beibehalten, die andere sie aufgeben. Corridoni, der zu den linken Interventionisten gehörte, sprach sich klar für einen Kriegseintritt auf Seiten der Entente aus. Als dieser im Mai 1915 Realität wurde, meldete er sich als Freiwilliger. Ende Juli kam er an die Front und starb drei Monate später in einem Schützengraben, als die italienische Armee vergeblich versuchte, den Weg nach Gorizia freizumachen. Seine Leiche verschwand spurlos und wurde trotz Suche seiner Kameraden nie gefunden. Er wurde 28 Jahre alt.

Vereinnahmt von beiden Seiten
Sein Tod, die Erzählungen derjenigen, die ihm in seinen letzten Stunden am nächsten standen, das Geheimnis um seinen Leichnam und vor allem sein unermüdlicher Kampf für Arbeiterrechte führten dazu, dass er von der politischen Linken wie auch der Rechten vereinnahmt wurde. Mussolini ins­trumentalisierte und verherrlichte Corridoni als faschistischen Helden, die Linken verwiesen auf seine politischen Ideen und darauf, dass eine nach ihm benannte Legion 1922 maßgeblich am Sieg über faschistische Gruppen in Parma beteiligt war. Nach dem Untergang des Mussolini-Regimes wurde er für einige Zeit vergessen und erst in den vergangenen Jahrzehnten von den Historikern wiederentdeckt.
Noch heute stehen ihm zu Ehren italienweit Monumente und Büsten; Straßen, Schulen und Kulturvereine tragen seinen Namen, in Meran zeitweise eine Turnhalle in Untermais und die eingangs erwähnte Straße in Sinich.
Christian Zelger