Simon Gufler hat 12, Gottlieb Schweigl 40 und Katalea Gufler nennt gar 70 Goaß im Besitz ihrer Familie. Geschäft lässt sich mit ihnen nicht machen, trotzdem lieben sie alle.
Vor allem in Passeier, wo sie herkommt und sich mittlerweile über das ganze Land ausgebreitet hat. Die Rede ist von der Passeirer Gebirgsziege.
von Josef Prantl
Einen schönen breiten Kopf, einen möglichst kurzen Hals, nicht zu dicke, dafür kurze Ohren, ein dickes Maul und dicke Füße sollte sie schon haben, beschreibt Simon Gufler sein Schönheitsideal einer Goaß, wie die Ziege im Dialekt genannt wird. Die Hörner der Ziegen sind leicht nach außen gebogen und verleihen ihnen ein majestätisches Aussehen. Die Böcke tragen stolze Bärte, und auch bei den Geißen ist ein Bart erwünscht. Auffallend sind auch die „Mengelen“ oder „Mengiler“, kleine Hautfalten hinter dem Kehlkopf, die das charakteristische Aussehen der Tiere abrunden.
Eine weitere Besonderheit ist die Farbenpracht der Passeirer Gebirgsziege. Es gibt sie in verschiedenen Schattierungen, die von den Züchtern genauestens unterschieden werden. Die drei Haupttypen sind „gonset“, „strohlet“ und „einfärbig“. „Gonset“ beschreibt eine Ziege, die vorne hell und hinten dunkel gefärbt ist, während „strohlet“ eine helle Zeichnung auf dem Kopf aufweist. Einfarbige Ziegen haben dagegen eine einheitliche Färbung von Kopf bis Schwanz, mit nur geringen Abweichungen an den Beinen oder dem Kopf. Ein durchgehender Aalstrich entlang des Rückens ist bei allen Farbschlägen wünschenswert.
Mit ihrem mittelgroßen, robusten Körperbau, dem breiten, geraden Rücken und dem charakteristischen konkaven Nasenbein sind sie perfekt an die alpinen Bedingungen angepasst. Die Zucht dieser Tiere ist eine Kunst für sich, die von den Züchtern mit größter Sorgfalt betrieben wird.
Goaß und Ziege
„Martin Luther, dessen Bibelübersetzung für die Entwicklung des Hochdeutschen von herausragender Bedeutung ist, spricht zum ersten Mal von Ziegen“, erklärt Religionslehrer Lukas Weger. Seither werden die alten Bezeichnungen „Geiß“ oder „Zicke“ im deutschen Sprachraum anders verwendet. Im Tierreich ist eine Goaß also eine Geiß oder eine Ziege (althochdeutsch: Geiz). Im menschlichen Kontext steht das Wort „Goaß“ aber für eine Frau, die zur Kompliziertheit neigt. Dagegen werden störrische Männer als „Goaßbock“ bezeichnet. Als sprachliche Erweiterungen sind vor allem in Bayern die Goaßschau (Stierblick), die Goaßmass (Getränk) und das Glück vom Goaßpeterl (unverhofftes Glück) bekannt.
Die Psairer und ihre Liebe zur Goaß
„Es gibt keine logische Erklärung für die Liebe der Psairer zur Goaß“, sagt Weger. Der Riffianer kennt das Tal, die Menschen und die Tiere wie seine Westentasche. Wegers Leidenschaft ist die Fotografie, und statt mit dem Gewehr rückt er mit Kamera und einem großen Objektiv aus und schießt eindrucksvolle Bilder, die ihm die raue Hinterpasseirer Bergwelt in ihrer ganzen Pracht bietet. „Von Mitte Mai bis Ende Oktober bleiben sie auf der Alm“, erklärt Gottlieb Schweigl. Mehrmals in der Woche rückt der Piller aus, um nach seinen Ziegen auf der Imster Alm zu schauen. Limes, Backy, Milly, Maya, die siebenjährige Katalea vom Kresspichlguet in Pfelders kennt jede Einzelne und hat für jede ihrer Ziegen einen Namen. Zu Hause gibt es Ziegenkäse und im August Bock aufessen. „Bock aufessen“ im August und Kitzfleisch zu Ostern gehört zur guten Tradition der Passeirer, und wer etwas auf sich hält, der schaut sich rechtzeitig nach dem begehrten Fleisch um.
Doch nicht bei allen sind die Ziegen immer willkommen. So kommt es vor, dass sich Förster und Bauern darüber beschweren, dass die Ziegen nicht nur Gras, sondern auch frisch ergrünte Baumkronen und Blatttriebe fressen. Außerdem laufen sie in lockeren Herden umher, im Gegensatz zu Schafen, die in geschlossenen Gruppen weiden. Auch dies wird von manchen als störend empfunden, vor allem wenn Ziegen ohne Weiderecht auf Almen getrieben werden.
Die Geschichte
Die Ursprünge der Passeirer Gebirgsziege reichen bis ins Mittelalter zurück. In einer Zeit, in der das Überleben in den Bergen von Anpassung und Einfallsreichtum abhing, erwies sich diese Ziege als unschätzbar. Man sagt, dass sie von verschiedenen Ziegenrassen abstammt, die vor Jahrhunderten miteinander gekreuzt wurden. Zu ihren Ahnen zählen die ungarische Zagglziege sowie die Schweizer Pfauenziege, die Toggenburger Ziege und die Bündner Strahlenziege. Ihre Besonderheit ist ihre Robustheit. Sie ist genügsam und daher bestens an die raue Berglandschaft angepasst. Im Herdebuch des Südtiroler Kleintierzuchtverbandes ist sie als einheimische und autochthone Rasse eingetragen. Autochthon bedeutet, dass sie von hier stammt, also eine einheimische und echte Psairerin ist.
Symbol des Überlebens
„Sie sind nicht nur Teil unserer Kultur, sondern auch von unschätzbarem Nutzen für die Landwirtschaft und es ist ein Irrglaube zu denken, dass moderne Rassen alles ersetzen können“, kritisiert Lukas Weger. Denn viele der alten Nutztierrassen waren ideal an die spezifischen Bedingungen ihrer Umgebung angepasst. So haben alte Haustierrassen, die in den Alpen gehalten wurden, gelernt, auf kargen Wiesen zu überleben und unter extremen klimatischen Bedingungen zu gedeihen. „Die genetische Vielfalt, die in diesen Rassen steckt, könnte gerade angesichts des Klimawandels ein wichtiger Schlüssel für die Zukunft sein. Doch wenn diese Rassen aussterben, geht auch ein Teil dieses genetischen Schatzes unwiederbringlich verloren“, so Weger.
Zwischen Hobby und Leidenschaft
In Südtirol gibt es mehrere Dutzend Ziegenvereine. In Passeier sind es bereits drei. 8000 Ziegen soll es im Tal geben, das würde bedeuten, dass auf jeden Einwohner eine Ziege kommt, schmunzelt Lukas Weger. Es gibt regelrechte Wettbewerbe, bei denen die schönste Ziege gekürt wird – fast noch schwieriger als die Wahl zur Miss Südtirol. Die Ziegen werden liebevoll gepflegt, die Bärte gekämmt und die Hörner poliert. Manche Tiere tragen die traditionelle Ziegenglocke, die an einem prächtigen, kupferbeschlagenen Holzbogen befestigt ist. „Die Ziegenhaltung im Passeiertal ist mehr als nur eine landwirtschaftliche Tätigkeit, sie ist eine Lebenseinstellung“, erklärt Simon Gufler.
Blick in die Zukunft
„Die Goaß ist ein Teil unserer Geschichte, unserer Tradition und unserer Landschaft“, bestätigt Gottlieb Schweigl. Doch wie so viele alte Rassen wurde auch sie von modernen, leistungsfähigeren Rassen verdrängt. Früher waren die Tiere vor allem für ärmere Bauern von unschätzbarem Wert, da sie mit wenig Aufwand und auf kargen Weiden gehalten werden konnten. Mit dem Wandel in der Landwirtschaft wurden sie jedoch zunehmend verdrängt. Ein Beispiel dafür ist das Ultner Rind, das mittlerweile vom Grauvieh verdrängt wurde. Während sich der Haflinger weltweiter Beliebtheit erfreut, waren die Pustertaler Sprinzen vom Aussterben bedroht. Biodiversität beinhaltet auch die genetische Vielfalt der Nutztierrassen und die Vielfalt der Nutztierrassen ist leider verloren gegangen. „Nicht Wolf und Bär bedrohen die Vielfalt, sondern die moderne Lebensmittel- und Agrarproduktion“, so Lukas Weger.
Sympathie und Liebe zu bestimmten Arten oder Rassen haben glücklicherweise einen großen Einfluss auf den Tierbestand. Und so sind wir heute weit davon entfernt, dass die Passeirer Gebirgsziege vom Aussterben bedroht ist. „Ich hoffe, dass die Menschen eines Tages verstehen, dass wir diese Tiere nicht nur wegen ihres Nutzens, sondern auch wegen ihres kulturellen Wertes erhalten müssen. Sie sind ein lebendiges Erbe“, sagt Weger. Während die moderne Landwirtschaft nach wie vor auf Effizienz und Massentierhaltung setzt, bleibt die Frage: Schaffen wir es, den Wert unserer alten, vom Aussterben bedrohten Haustierrassen rechtzeitig zu erkennen? Die Geschichte der Passeirer Ziege zeigt: Noch ist es nicht zu spät – aber es ist höchste Zeit zu handeln.