Die Kristallkugel haben wir nicht. Trotzdem können wir ein paar Dinge voraussagen. Zukünftig werden weniger Menschen arbeiten und mehr Menschen werden im Rentenalter sein, bei einer wachsenden Bevölkerung in Südtirol. Auch die Klimakrise wird stärker spürbar werden. Und die Digitalisierung wird vieles verändern. Demografischer Wandel, Klimakrise und Digitalisierung sind die großen drei Unbekannten der Zukunft.
von Josef Prantl
„Wie können wir den Wohlstand in Südtirol sichern?“, lautet eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung WIFO, die heuer im Sommer vorgestellt wurde. Ein hohes Wohlstandsniveau zu erreichen und zu sichern, sei für jede Gesellschaft zentral, heißt es darin. Und: „Der demografische Wandel stellt dabei eine große Herausforderung dar, die den Wohlstand gefährden kann, wenn nicht rechtzeitig gegengesteuert wird.“ Es gibt drei große Faktoren, welche die kommenden Jahrzehnte bestimmen.
Babyboomer kommen ins Rentenalter
In den vergangenen 20 Jahren ist die Südtiroler Bevölkerung um rund 16 Prozent gewachsen, von 460.000 auf 532.000 Einwohnern. 2050 sollen es laut ISTAT 575.000 Einwohner sein. Der Anteil der älteren Menschen wird dann auf 30% ansteigen, was einer Verdoppelung im Zeitraum zwischen 2000 bis 2050 entspricht. Lebten im Jahr 2000 noch rund 70.000 Menschen über 64, so werden es 2050 rund 175.000 sein. Umgekehrt wird die Anzahl der Erwerbsfähigen von 314.000 auf etwa 293.000 sinken, was zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) führt. Wenn alle wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie die Erwerbsquote und Arbeitsproduktivität unverändert bleiben, wird das BIP im Jahr 2050 bei 24,1 Milliarden Euro liegen, was einem Rückgang von 6,5 % im Vergleich zu 2022 entspricht. Das Bruttoinlandsprodukt muss dann auf eine größere Bevölkerung verteilt werden, was zu einem Rückgang des Wohlstands pro Kopf führt. Der BIP pro Kopf wird voraussichtlich von 48.300 Euro im Jahr 2022 auf 41.800 Euro im Jahr 2050 sinken, was einem Rückgang von etwa 13,6 % entspricht.
Demografischer Wandel und Wohlstandsverlust
Südtirol zählt derzeit mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Italien zu den wohlhabendsten Regionen Europas. Die Sicherung des Wohlstands ist angesichts des demografischen Wandels eine große Herausforderung. Fakt ist: Der demografische Wandel wird weitreichende Auswirkungen auf den zukünftigen Wohlstand der Bevölkerung haben, insbesondere aufgrund der sinkenden Zahl an Erwerbstätigen und der steigenden Zahl an Rentnern. Die Folgen dieses demografischen Wandels betreffen nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme, wie etwa Renten und Gesundheitsversorgung, die aufgrund der höheren Zahl an älteren Menschen stärker belastet werden. Aber das ist nur ein Damoklesschwert, das über uns schwebt.
Die Klimakrise
Seit den 1960er Jahren bis heute ist die Jahresdurchschnittstemperatur bei uns um 1,5 Grad gestiegen. Im Sommer ist es in Bozen und Brixen sogar um drei Grad wärmer geworden. Es wird zu immer heißeren und trockeneren Sommern und milderen und feuchteren Wintern mit mehr Starkregenereignissen kommen. In der Folge werden große Teile des Landes vermehrt instabil und anfälliger für Rutschungen und Steinschlägen. Ein Szenario der EURAC-Wissenschaftler geht davon aus, dass es zu einem weiteren Anstieg der durchschnittlichen Sommertemperatur um etwa 5 °C kommt, wenn es uns nicht gelingt, die Treibhausgasemissionen zu senken. Der „Klimaplan Südtirol 2040“ soll unser Land zwar bis 2040 in die Klimaneutralität führen. Ob das aber gelingt?
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz
Die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind bereits dabei, unsere Berufswelt auf den Kopf zu stellen. Eine Schweizer Forschungsgruppe hat für mehrere Berufe einen sogenannten Automatisierungs-Risiko-Index berechnet. Der Beruf des Metzgers hat demnach ein Automatisierungs-Risiko von 78 Prozent. Das heißt: 78 Prozent der notwendigen Fähigkeiten bringen Roboter heute schon mit. Am anderen Ende des Spektrums sind Physiker. Ihr Risiko-Index liegt bei 43 Prozent. Jobs wie Ingenieure, Piloten, Fluglotsen und die meisten Ärzte-Berufe sind laut Risiko-Index sicher. Ausnahmen sind Fachärzte für Radiologie. Sie bewegen sich bereits im Mittelfeld, weil die Künstliche Intelligenz Teile der Arbeit in der Diagnostik erledigen kann. Schreibberufe wie Übersetzer, Journalist, Buchhalter oder Sekretärin können durch KI ersetzt werden. Nochmals deutlich unsicherer sind die Jobs von Kassierern, Tellerwäschern, Taxifahrern oder Models, die mittlerweile auch schon durch virtuelle Abbilder (sogenannte Avatare) ersetzt werden können. Künstliche Intelligenz benötigt aber sehr viel Rechenleistung. Dafür sind riesige Serverparks mit Computern notwendig, die sehr viel Strom verbrauchen. So soll der Betrieb von ChatGPT täglich Kosten von über 700.000 Dollar verursachen.
Dem Wohlstandsverlust entgegenwirken
Ohne Änderungen der Arbeitsmarkt- und Produktivitätsbedingungen wird laut WIFO-Studie der Wohlstand in Südtirol um rund 13,6 % sinken. Die Experten schlagen eine Kombination von Maßnahmen vor. Dazu gehören Investitionen in Bildung und Ausbildung, Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen und auch Migranten mit geringer Ausbildung, flexible Renten- und Arbeitszeitmodelle, mehr Frauen in Arbeit bringen und die Förderung von Innovationen. Vollzeitarbeit und nicht kürzere Arbeitszeiten sind anzustreben. Es braucht Anreize und attraktive Bedingungen, länger zu arbeiten und später in Rente zu gehen. Die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte ist zu bekämpfen. Dazu gehört bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Innovation und hochwertige Technologien sind daher zu fördern. Neben einer höheren Erwerbsquote ist Produktivitätswachstum entscheidend, damit wir nicht in die Armut schlittern, heißt es in der Studie.
Prof. Dr.-Ing. Dominik Matt lehrt an der Freien Universität Bozen an der Fakultät für Ingenieurwesen. Er leitet das Forschungsteam „Industrial Engineering and Automation“ und ist insbesondere für seine Arbeiten zur Optimierung von Produktionsprozessen und zur Anwendung von Industrie 4.0-Technologien bekannt. Darüber hinaus ist Prof. Matt Leiter des Forschungsinstituts Fraunhofer Italia in Bozen, eines der führenden Forschungseinrichtungen in Europa in Bezug auf Automation und Digitalisierung.
Herr Prof. Matt, wie wird die Künstliche Intelligenz unsere (Arbeits-)Welt verändern?
Prof. Dominik Matt: Seit der Erfindung der Dampfmaschine vor etwa 250 Jahren haben technologische Fortschritte durch industrielle Revolutionen die Arbeitswelt tiefgreifend verändert und die Produktivität enorm gesteigert, vor allem durch die Automatisierung einfacher, manueller Routinetätigkeiten. Diese Fortschritte führten dazu, dass viele Aufgaben, die zuvor menschliche Kraft und Zeit beanspruchten, effizienter und kostengünstiger erledigt werden konnten, was die wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand beflügelte. Während bis vor kurzem komplexe, situative manuelle Tätigkeiten (z.B. Taxifahren) sowie nahezu alle kognitiven Tätigkeiten (z.B. Vertragsprüfung) als kaum bzw. schwierig automatisierbar galten, verschiebt sich dieses Verständnis nun durch die rasant fortschreitenden Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz. KI-Technologien machen es zunehmend möglich, auch anspruchsvolle und wissensintensive Aufgaben (z.B. Röntgenbilder auswerten) zu automatisieren, was das Potenzial der Automatisierung grundlegend erweitert und die Zukunft der Arbeitswelt neu definiert.
Die Veränderung unserer Arbeitswelt durch KI wird also auf mehreren Ebenen vonstattengehen?
Zum einen wird sie uns auch weiterhin dabei unterstützen, repetitive und datenintensive Tätigkeiten zu automatisieren, was nicht nur in klassischen Anwendungsbereichen wie Produktion und Logistik, sondern auch in stärker kognitiven Funktionen wie z.B. Verwaltung, Entwicklung und Vertrieb enorme Effizienzpotenziale freisetzen wird. Zum anderen verändern sich durch KI bestehende Berufsbilder mitunter stark oder es entstehen dadurch gar völlig neue Berufsfelder und Aufgaben, welche allesamt kreatives, strategisches und technisches Wissen voraussetzen.
Ich versuche das an Beispielen zu veranschaulichen: Durch den Einsatz von KI in der Vertragsanalyse könnte sich beispielsweise das bisherige Berufsbild des Anwalts ändern, da KI-gestützte Systeme Vertragsprüfungen in Sekunden mit höherer Genauigkeit durchführen können als viele Top-Anwälte. Anwälte bleiben trotzdem unverzichtbar, da sie die von der KI markierten kritischen Stellen tiefer prüfen und komplexe rechtliche Bewertungen vornehmen können, was den gesamten Arbeitsprozess optimiert und schneller macht.
Was könnte ein neues Berufsbild der Zukunft sein?
Ein neues Berufsbild könnte z.B. der „Drohnen-Flottenmanager sein, der die Verwaltung und Koordination großer Drohnenschwärme für verschiedene Anwendungen wie Lieferungen, Infrastrukturinspektionen oder Landwirtschaft übernimmt. Die KI unterstützt dabei, die Drohnen effizient zu steuern, Routen zu optimieren und potenzielle Störungen in Echtzeit zu erkennen, während der Mensch die strategische Planung und Entscheidungsfindung verantwortet. Es gäbe noch viele weitere Beispiele möglicher künftiger Szenarien. Wichtig bei all diesen Überlegungen ist, die Chancen von KI so zu nutzen, dass menschliche Fähigkeiten ergänzt und nicht ersetzt werden.
Ich sehe darin die Möglichkeit, dass wir uns stärker auf kreative, innovative und soziale Aspekte unserer Arbeit konzentrieren können. KI wird also die Natur vieler Berufe verändern und uns zwingen, uns stetig weiterzubilden, um mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten.
Die WIFO-Studie „Wie können wir den Wohlstand in Südtirol sichern?“ spricht von drei großen Szenarien, die wir bewältigen müssen, um nicht in die Armut zu schlittern. Wie kann uns Technologie helfen, Klimakrise und demografischen Wandel mit all den Folgen zu bewältigen?
Tatsächlich zeigt die WIFO-Studie auf, dass der Wohlstand der Südtiroler Bevölkerung bis 2050 aufgrund des demographischen Wandels und des damit einhergehenden Rückgangs der Personen im erwerbsfähigen Alter um 13,6 % sinken wird.
Zu vergleichbaren Prognosen kommt man auch in Deutschland: hier geht der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums von einer Reduzierung der Erwerbstätigen um 4 Millionen Menschen in den kommenden zehn Jahren aus, wobei in dieser Betrachtung noch nicht einmal die gerade von jüngeren Generationen geforderten kürzeren Arbeitszeiten – beispielsweise durch eine Viertagewoche – sowie der generelle Trend zu mehr Teilzeitbeschäftigung berücksichtigt wurden. Gleichzeitig müssen wir noch bedenken, dass uns der Klimawandel – auch wirtschaftlich – vor enorme Herausforderungen stellt und die öffentlichen Haushalte und damit die Steuerzahler künftig immer stärker belasten wird. Künstliche Intelligenz kann ein wertvolles Instrument sein, um die Klimakrise und den demografischen Wandel anzugehen, natürlich nicht als alleiniges Heilmittel. So können Digitalisierung und KI beispielsweise helfen, Ressourcen besser zu nutzen und so effiziente und gleichzeitig nachhaltigere Prozesse zu gestalten.
Wie kann das konkret aussehen?
Ein Beispiel ist die Optimierung der Energieverwendung durch intelligente Systeme, die Angebot und Nachfrage im Stromnetz besser ausgleichen oder Emissionen im Verkehr und in der Industrie reduzieren: das spart Geld und leistet gleichzeitig einen wertvollen Beitrag zum Klimaschutz.
Insgesamt strebt man unter dem Schlagwort „Industrie 5.0“ nach KI-gestützten Ansätzen, um Produktivität und Wirtschaftlichkeit weiter zu steigern, ohne aber Aspekte der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit dabei zu vernachlässigen. So benötigen wir – immer noch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels – technologische Lösungen, um die alternde Bevölkerung zu unterstützen – etwa durch Robotik in der Pflege oder durch Assistenzsysteme, die älteren Menschen ermöglichen, länger selbstbestimmt zu leben. Wichtig ist dabei immer, dass wir Technologie gezielt und verantwortungsvoll einsetzen, um ökonomische, ökologische und soziale Herausforderungen ganzheitlich zu bewältigen.
Wie gut sind wir in Bezug auf Digitalisierung und KI aufgestellt?
Es ist hinlänglich bekannt, dass wir in Europa bei der technologischen Entwicklung künstlicher Intelligenz hinter den USA und China herhinken.
Der Vorsprung, den sich v.a. Technologiegiganten wie Google, Microsoft, Apple, Amazon oder Meta bei der KI-Entwicklung verschafft haben, wird in Europa kaum aufzuholen sein. Doch wir haben eine große Chance, und die liegt in der zielgerichteten Anwendung von KI.
Das beinhaltet zum einen die konsequente Integration von KI in bestehende Industrien und damit die Steigerung der Arbeitsproduktivität – in diesem Bereich haben wir eine lange industrielle Kultur und Erfahrung und könnten Wettbewerbsnachteile durch Demographie und hohe Standortkosten zumindest teilweise kompensieren. Zum anderen besteht ein riesiges Innovationspotenzial durch die Anwendung von KI in neuen Produkten und Services, insbesondere bei erneuerbaren Energien und bei sogenannten sauberen Technologien. Dafür aber braucht es geeignete Infrastrukturen und gut ausgebildete Menschen.
In Südtirol wurden die Weichenstellungen für Innovation und Forschung bis 2030 mit der neuen Smart Specialisation Strategy getroffen, in deren Zentrum der NOI TechPark und dessen weitere Entwicklung steht, mit großen Potenzialen für die Zukunft – insbesondere durch die Ansiedelung der neuen Fakultät für Ingenieurwesen der Uni Bozen. Damit sind großartige Voraussetzungen geschaffen – doch die größte Herausforderung ist – wie so oft – nicht die Technologie allein, sondern das Mindset und die Bereitschaft zur Veränderung in den Betrieben und Institutionen. Zudem braucht es mehr Fachkräfte und gezielte Bildungsprogramme, um die Kompetenzen der Arbeitskräfte an die Anforderungen der Zukunft anzupassen. Hier ist unser gesamtes Bildungssystem gefordert!
Welche Kompetenzen brauchen wir in Zukunft im Umgang mit KI?
Es gibt mehrere Schlüsselkompetenzen, die in einer von KI geprägten Zukunft entscheidend sein werden. Zum einen müssen wir ein grundlegendes Verständnis für die Funktionsweise von KI entwickeln – zumindest so weit, dass wir ihre Einsatzmöglichkeiten und Grenzen erkennen können. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir einen ungezwungenen, nahezu selbstverständlichen Umgang mit diesen Technologien pflegen – und das beginnt bereits in der Schule. Digitale und KI-Kompetenz ist entscheidend für unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft, und sollte daher ein fester Bestandteil des Unterrichts bereits in unteren Schulstufen bilden.
Und zwar nicht nur unter technischen oder Anwendungsaspekten: Analytische Fähigkeiten und technisches Verständnis sind wichtig, aber auch ethisches und kritisches Denken, um die Auswirkungen und Verantwortlichkeiten zu verstehen, die der Einsatz von KI mit sich bringt. Außerdem werden „Soft Skills“ wie Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Teamarbeit eine größere Rolle spielen, da viele Aufgaben weiterhin interdisziplinäres Denken und Problemlösungsfähigkeiten erfordern werden.
KI wird uns dazu bringen, technologieaffin zu sein und lebenslanges Lernen als Normalität zu betrachten.
Stefan Perini ist diplomierter Volkswirt und vielen als Direktor des AFI (Arbeitsförderungsinstitut) bekannt. Zuvor war er im Landesinstitut für Statistik (ASTAT) sowie im Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) der Handelskammer Bozen tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Zukunft der Arbeit, Konjunktur, Einkommen, Verteilung, Wohlfahrt und Wohnen.
Herr Perini, im Sommer hat das Wirtschaftsforschungsinstitut der Handelskammer die Studie „Wie können wir den Wohlstand in Südtirol sichern?“ vorgestellt. Sehen Sie Südtirol auf einem Kurs, der uns in die Armut führen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher?
Stefan Perini: Um Südtirol auf Wohlstandskurs zu halten, braucht es zwei Dinge: Zum einen müssen wir genügend Wirtschaftsleistung erzielen – Voraussetzung dafür ist, dass unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt. Zum anderen braucht es auch einen stärkeren Blick auf die Verteilung. Das AFI sagt seit Jahren, dass wir in Südtirol weniger ein Produktionsproblem – sprich ein zu niedriges BIP -, sondern ein Verteilungsproblem haben. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Wertschöpfung auch bei den unteren 20% der Gesellschaft ankommt.
In der Studie wird empfohlen, sowohl die Arbeitszeit zu erhöhen als auch das Renteneintrittsalter nach hinten zu verschieben. Besteht nicht die Gefahr, dass dies vor allem auf Kosten der Arbeitnehmer geht?
Stimmt, einige Vorschläge gehen sicherlich nicht zugunsten der Arbeitnehmer und der morgigen Rentner. Nehmen wird das Beispiel Arbeitszeit: Hier bahnt sich ein Zielkonflikt an. Wir wissen aus Studien des AFI, dass die Arbeitnehmer tendenziell eine Verkürzung der Arbeitswoche wünschen; auf der anderen Seite fordern die Arbeitgeber eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Hervorzuheben ist, dass Südtirols Beschäftigte im internationalen Vergleich eigentlich schon eine sehr lange Arbeitswoche haben und das famose Klischee bestätigen, die Südtiroler seien „Buggler“. Die Frage ist daher, ob es zumutbar ist, dieses Arbeitspensum noch weiter zu erhöhen.
Bezüglich des Renteneintrittsalters sehen die derzeitigen Rentenbestimmungen bereits eine dynamische Anpassung auf Grundlage der Lebenserwartung vor. Gleichzeitig ist es eine Illusion zu glauben, dass man morgen früher in Rente gehen wird. In der Regel ist die Bevölkerung heute in einem besseren gesundheitlichen Zustand als beispielsweise noch vor 50 Jahren. Man muss sich aber schon auch immer die Frage stellen, was tatsächlich zumutbar ist, vor allem wenn wir an risikoreiche Berufe denken. Kann man beispielsweise Personen über 70 noch zumuten, einen Bus zu lenken oder einen Kran zu bedienen? Das Risiko ist, dass diese Personen nicht nur eine Gefahr für sich selbst, sondern auch für andere darstellen.
Ein weiteres Thema der Studie ist die Notwendigkeit, die Erwerbsquote zu steigern, da zukünftig weniger Menschen erwerbstätig sind, während die Zahl der Rentenbezieher wächst. Wie können wir dieses Problem lösen?
Hier decken sich die Vorschläge des Wirtschaftsforschungsinstituts weitgehend mit jenen des Arbeitsförderungsinstituts. Wir müssen darauf achten, dass das gesamte Erwerbspotenzial so gut wie möglich ausgeschöpft wird. Dies bezieht sich vor allem auf Frauen, die Beruf und Familie vereinbaren müssen.
Das könnte beispielsweise mit einer Anhebung der Teilzeit und einer besseren Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nach der Mutterschaft gelingen. Es gilt auch, Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu bringen und die Abwanderung zu stoppen. Denn wir wissen, dass wir einen guten Teil des heimischen Erwerbspotenzials verlieren, weil diese Personen sich entscheiden, in andere Regionen Italiens oder gar ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten. Hier sind wir auch beim Thema der Attraktivität Südtirols als Arbeitsstandort und der Zahlungsbereitschaft der heimischen Betriebe, die vor allem mit den deutschsprachigen Ländern nicht mithalten kann.
In Zusammenhang mit der steigenden Erwerbsquote stellt sich auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wie sehen Sie hier die Rolle von flexiblen Arbeitszeitmodellen und der Digitalisierung?
Das Thema Arbeitszeiten ist zentral, wenn es um eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Flexible Arbeitszeiten und auch Remote Work (Fernarbeit) können gute Voraussetzungen sein, um den Wiedereinstieg in den Beruf zu erleichtern bzw. auch ein höheres Stundenpensum zu ermöglichen. Es geht aber auch um entsprechende Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder und in immer stärkerem Maße auch für Senioren. Hier braucht es Strukturen für die Betreuung und den wirtschaftlichen Anreiz, das Arbeitspensum zu erhöhen.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Verteilung von Wohlstand. Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor, um die soziale Gerechtigkeit zu fördern, insbesondere für die unteren Einkommensschichten?
Genau dieser Aspekt ist ein Herzensanliegen im AFI. Südtirol ist eine der reichsten Regionen in Europa, aber die Verteilung des BIP ist verbesserungsbedürftig. Ein Schlüsselaspekt sind hier die Löhne, die nicht immer für ein menschenwürdiges Auskommen reichen. Insofern sind wir entschieden für Lohnerhöhungen auf breiter Basis. Wir haben zum Beispiel den Begriff „Südtirol-Lohn“ ins Spiel gebracht – also einen Lohn, der den Südtiroler Lebenshaltungskosten gerecht wird. Schon allein durch diese Maßnahme könnte man sehr viele soziale Probleme vermeiden. Zudem geht es darum, den Südtiroler Sozialstaat zukunftsfit zu machen. Die Sozialleistungen müssen kritisch hinterfragt und wo möglich gebündelt werden.
Außerdem dürfen wir nicht immer nur die 17 % der Haushalte anschauen, die in relativer Armut leben und nach den Gründen für diese Situation suchen, sondern uns auch mal den oberen 10% der Einkommensverteilung hinwenden und die Frage aufwerfen, ob dieser Reichtum nicht zum Teil abgetreten werden kann. Denn, wie wir wissen: Reichtum verpflichtet.
Was wären Ihrer Meinung nach die wichtigsten Reformen, die Südtirol dringend anpacken muss, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig und sozial gerecht zu bleiben?
Wie schon erwähnt, muss der Blick stärker auf die Verteilung gerichtet werden. Hier ist sicher einiges zu tun, beispielsweise zu überprüfen, ob die Ressourcen des Wohlfahrtsstaats wirklich dort ankommen, wo sie am meisten benötigt werden. Als Land Südtirol haben wir im Bereich der Sozialpolitik primäre Zuständigkeit.
Hier könnte Südtirol durchaus mutiger sein und eigene Modelle entwerfen. Dann geht es natürlich aber auch um die Produktionsseite. Südtirols Wirtschaft muss vor dem Hintergrund von demografischen Entwicklungen, Klimawandel, Globalisierung und der neuen Welle des Protektionismus wettbewerbsfähig bleiben. Hier müssen wir uns Fragen stellen wie: Sind wir in den richtigen Branchen? Haben wir die Betriebsgrößen, die wirklich zu einer höheren Produktivität verhelfen? Denn eine niedrige Arbeitsproduktivität bedeutet nicht, dass die Leute zu wenig schuften, sondern dass die Wirtschaft falsch ausgerichtet ist, beispielsweise auf Branchen mit niedriger Produktivität und auf zu kleine Betriebsgrößen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität kann nur durch eine Verschiebung der Südtiroler Wirtschaftsstruktur zu hochproduktiven Branchen erreicht werden. Es braucht den Mut zu etwas größeren Betriebsstrukturen und zum klugen Einsatz von Technik, die Stellen nicht wegrationalisiert, sondern die menschliche Arbeitskraft optimal mit Technik ergänzt.