True Crime, das wahre Verbrechen, boomt seit Jahren. Bücher, Dokumentationen und Podcasts über tatsächlich geschehene Kriminalfälle finden viele Leser, Seher und Hörer. Weit muss man dabei nicht blicken. In der heutigen Tiroler Straße in Tisens passierte vor 105 Jahren ein Aufsehen erregender Doppelmord.
Auch wenn „True Crime“ als Begriff erst seit etwa zehn Jahren vermehrt in den deutschsprachigen Medien auftaucht, so ist das Genre um einiges älter. Das wohl bekannteste frühe Beispiel dürfte die Fernsehsendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ sein. Das von Eduard Zimmermann konzipierte und dreißig Jahre lang moderierte Format im ZDF gehört zu den ältesten des Senders. Mit Hilfe von Zuschauerhinweisen sollen bisher ungeklärte Straftaten aufgeklärt werden. Im Verlauf der Sendung werden mehrere Kriminalfälle vorgestellt, für die jeweils eine etwa zehnminütige filmische Rekonstruktion der Geschehnisse vorbereitet wurde. Obwohl fast 39 % aller präsentierten Fälle gelöst werden konnten – eine durchaus beeindruckende Zahl –, begleitete die Sendung von Anfang an auch viel Kritik. Einer der Vorwürfe lautete, das Format würde Verbrechen zu Unterhaltungszwecken darstellen, um die Sensationslust des Publikums zu bedienen. Doch das Böse, warum auch immer, fasziniert den Menschen seit jeher und die Hoffnung, dass Verbrechen geahndet werden, ist nachvollziehbar.
Bluttat im Gasthaus
Es war Sonntag, 12. September 1920. Der 23-Jährige Alois K. war ein im Dorf bekannter Stänkerer, der keiner Konfrontation aus dem Weg zu gehen schien. Zwischen ihm und dem gleichaltrigen Bauernsohn Johann B., der als Briefträger arbeitete, gab es schon seit einigen Jahren Unstimmigkeiten. Woher diese kamen, wusste niemand so genau, vielleicht auch sie selbst nicht.
So kam es immer wieder zu Sticheleien zwischen den beiden. Obwohl Johann als friedliebend galt, konnte auch er es sich mitunter nicht verkneifen, versteckte Anspielungen oder Zweideutiges von sich zu geben. Doch mit den beiden war an jenem verhängnisvollen Sonntag die Mischung noch nicht explosiv genug.
Alois war mit dem 20-Jährigen Josef K. befreundet, der sich wiederum mit Martin L. überworfen hatte. Alle vier befanden sich am Abend des 12. September in einer bekannten Tisner Gastwirtschaft, Alois und Josef auf der einen, Johann und Martin auf der anderen Seite. Andere Gäste waren zu diesem Zeitpunkt keine anwesend.
Der Gastwirt schlief sitzend in der Ecke und mit der Bedienung war die erst 13-jährige Maria M. beschäftigt. Josef hatte den ganzen Tag in Lana gearbeitet und ausgerechnet der ihm missliebige Martin hatte ihm Grüße ausrichten lassen, was er als Provokation aufgefasst hatte.
Nun ergab sich die Gelegenheit, den hänselnden Gruß zu erwidern. Aus dem Wortgeplänkel der beiden entstanden in kürzester Zeit Tätlichkeiten, in die Alois und schließlich auch Johann eingriffen. Mittlerweile war der Gastwirt durch den Lärm erwacht und einige Burschen, die sich in der Küche aufgehalten hatten, kamen in den Raum. Plötzlich wurde ein 12 cm langes Messer gezückt und Martin und Johann lagen mit tödlichen Wunden am Boden.
Fragen im Gerichtssaal
Alois und Josef wurden verhaftet und dem Bezirksgericht Lana überstellt. In Josef vermutete man einen Mittäter oder Anstifter, allerdings haben die Untersuchungen ergeben, dass er am Totschlag nicht beteiligt war. Alois hingegen leugnete bei der ersten Einvernehmung jede Verantwortung, später behauptete er, es wäre Notwehr gewesen, er hätte aus Selbstschutz sein Messer vor sich hingehalten. Wieder später erklärte er, dass er sich nur an Johann, nicht aber an Martin erinnern könne. Dabei hatte die Polizei sein Messer noch in Martins Kleidung steckend vorgefunden. Die lokalen Tageszeitungen sparten in ihrer Berichterstattung nicht mit medizinischen Einzelheiten zu den Verletzungen der beiden. Der Prozess fand im Dezember 1920 statt. Die Aussagen der Zeugen unterschieden sich zwar in den Details, bestätigten aber, dass es vor der Bluttat einen heftigen Wortwechsel gab, „wobei es nach bäuerlicher Sitte an gegenseitigen Herausforderungen und versteckten Drohungen nicht fehlte“, wie es ein Prozessbeobachter formuliert hatte. Ebenfalls stimmten sie darin überein, dass Alois von niemandem angegriffen worden war. Der Angeklagte wurde nach einem langem Prozesstag einstimmig für schuldig befunden und – unter Berücksichtigung einer festgestellten geistigen Einschränkung – zu fünf Jahren schweren Kerker verurteilt.
Christian Zelger