Künftig will das Land Südtirol noch stärker als bisher neue Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen fördern. Heute (6. April) wurden die entsprechenden Richtlinien vorgestellt.
„Jeder Mensch soll selbst bestimmen, wo und mit wem er wohnen will“, mit diesen Worten umschrieb Karin Pfeifer, Ansprechperson der Selbstvertretungsgruppe People First, die Bedeutung der neuen Richtlinien für Wohndienste und -leistungen für Menschen mit Behinderungen, mit psychischer Erkrankung und mit Abhängigkeitserkrankungen. Pfeifer selbst lebt selbstständig in einer Wohnung und ermutigte auch andere Menschen mit Lernschwierigkeiten den Schritt in Richtung selbstständiges Wohnen zu unternehmen, auch weil man dadurch andere Menschen ohne Lernschwierigkeiten kennenlernen könne.
Durch die Verabschiedung der Richtlinien gelange das Landesgesetz Nr. 7/2015, das Inklusionsgesetz, zur Umsetzung unterstrich Landeshauptmann Arno Kompatscher: „Mit dem Beschluss der Landesregierung wurde ein wesentlicher Schritt für den Bereich des selbstbestimmten Wohnens gemacht. Wir wollen damit einen Quantensprung setzen.“ Für die Betroffenen, aber auch für die Eltern sei es wichtig zu wissen, dass Selbstständigkeit, unterstützt durch Infrastrukturen und durch Menschen, möglich sei. Das Ziel sei es Möglichkeiten zu mehr Autonomie zu schaffen.
„Der Weg zu den Durchführungsbestimmungen im Bereich Wohnen war ein Weg, der in guter Zusammenarbeit mit privaten und öffentlichen Diensten für Menschen mit Behinderungen, mit Selbstvertretungsgruppen und Interessensvertretungen beschritten wurde“, führte Soziallandesrätin Waltraud Deeg aus. Die Richtlinien seien in der gemeinsamen Überzeugung erarbeitet worden, um die Ressourcen der betroffenen Menschen zu sehen, ihre Stärken zu erkennen und Vertrauen zu schenken.
Inklusionsgesetz von 2015: Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit
Die stellvertretende Direktorin des Amtes für Menschen mit Behinderungen Ute Gebert erinnerte daran, dass im Sommer 2015 der Landtag einstimmig das Landesgesetz zur Inklusion verabschiedet hatte. Insgesamt gebe es in Südtirol rund 13.500 Menschen, denen die Ärztekommission eine Behinderung laut Gesetz 104 attestiert wurde. Davon seien rund 5700 zwischen 18 und 64 Jahren alt und somit in einem Alter, in dem selbstständiges Wohnen ein aktuelles Thema sei. „Es geht hier, ähnlich wie in den anderen Bereichen des Inklusionsgesetzes, um Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Wahlfreiheit. Wir haben nun einen großen Auftrag in der Umsetzung die nächsten nötigen Schritte zu machen und neben der Ausdifferenzierung des Leistungsangebotes eine qualitative Weiterentwicklung zu ermöglichen“, führte Gebert aus.
Wichtig sei in diesem Zusammenhang das klare Bekenntnis zur Deinstitutionalisierung, sprich weg von eigenen Einrichtungen, hin zu einem Wohnen wie alle anderen Menschen auch, zu einem Mehr an Wohnangeboten in „normalen“ Umfeldern. Neben der Förderung von innovativen Projekten zählt zudem die Wohnberatung zu den wichtigen Neuerungen. Franca Marchetto, Leiterin der Koordination der Wohnprojekte bei der Lebenshilfe, berichtete von ihren Erfahrungen und von der Bedeutung der guten Zusammenarbeit der unterschiedlichen Dienste. 2019 gab es insgesamt 209 Projekte der sozialpädagogischen Wohnbegleitung, bei denen Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt, aber dennoch mit Begleitung und mit eventuell nötiger Pflegeunterstützung leben. Hinzu kommen Trainingswohnungen für 20 Menschen in 6 Diensten, 550 Plätze in Wohngemeinschaften und -häuser sowie einige bei Gastfamilien. „Mit den Richtlinien bieten sich neue Möglichkeiten für Betroffene und für ihre Familien, vor allem im Bereich der Wohnberatung, weil es nun möglich ist, frühzeitig und über einen langen Zeitraum Beratung und Begleitung zu ermöglichen“, sagte Marchetto.
Über die aktuellen Herausforderungen berichtete Johanna Marsoner, Leiterin des Sozialzentrums Kurtatsch. Aktuell warten rund 200 Personen auf eine für sie geeignete Wohnmöglichkeit, durch die neuen Richtlinien gebe es nun auch die Möglichkeit, verstärkt kreative und neue Wohnformen anzubieten: „Es geht nun weniger darum, herkömmliche Dienste auszubauen, sondern vielmehr darum, Lösungen bzw. Leistungsangebote an die individuellen Bedürfnisse der Menschen anzupassen“, führte Marsoner aus. Inklusion befördere das Selbstbewusstsein der Betroffenen und der Angehörigen, was ein guter und gesellschaftlich nötiger Prozess sei. Auch der Präsident des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit Wolfgang Obwexer bezeichnete den Schritt hin in Richtung Deinstitutionalisierung und Stärkung der Selbstbestimmung. „Der Bedarf an Wohnunterstützung ist in vielerlei Hinsicht gegeben. Zusätzlich zur familiären Unterstützung braucht es aber auch die Solidargemeinschaft in Form der öffentlichen Hand und der gemeinnützigen Organisationen. Die Menschen mit Beeinträchtigungen und ihre Familien haben lange und geduldig auf die Richtlinien gewartet, wir appellieren deshalb an alle die Richtlinien jetzt auch rasch umzusetzen und mit den nötigen finanziellen Ressourcen auszustatten“, hob Obwexer hervor. Dies griff Landesrätin Waltraud Deeg abschließend auf und sicherte ihre Unterstützung zu, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. (ck)