Vielleicht hat es der Primar der Dermatologie Bozen nicht so gemeint. Homöopathie und dergleichen mit öffentlichen Geldern zu fördern, lehnte er in einem RAI-Interview jedenfalls ab. „Sonst können wir Handauflegen oder Heilbeten auch noch finanzieren“, argumentiert Klaus Eisendle. Ähnlich denkt Karl Lauterbach. Der deutsche Gesundheitsminister verweist auf die fehlenden wissenschaftlichen Belege zur Wirksamkeit der Globuli und will Homöopathie nicht mehr über die Krankenkassen finanzieren.
von Josef Prantl
Deutschland und die Schweiz sind übrigens die einzigen Länder, wo homöopathische Behandlungen (noch) von den Krankenkassen bezahlt werden. Das Verhältnis von sogenannter „Schulmedizin“ und alternativen medizinischen Konzepten scheint von gegenseitigem Misstrauen, Abgrenzung, teilweise Ablehnung geprägt zu sein. Bei uns ist man an das Selbstzahlen gewöhnt, möchte man alternative medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Und die Nachfrage nach komplementärmedizinischen Angeboten ist keinesfalls gering. Immer mehr Menschen ziehen natürliche Heilverfahren den Pharmaprodukten vor. Seien es homöopathische Globuli oder Arzneimittel aus der Naturheilkunde, die Menschen vertrauen ihnen einfach mehr als der Chemie.
Die klassische Homöopathie
Die klassische Homöopathie ist wohl eines der bekanntesten Therapieverfahren der Naturheilkunde. Der Begriff Homöopathie stammt aus dem Griechischen und lässt sich am ehesten mit „ähnliches Leiden“ übersetzen. Es war der deutsche Arzt Samuel Hahnemann, der 1796 die Grundlagen der Homöopathie formulierte: Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden („similia similibus curentur“). Hahnemann zufolge sollten Arzneistoffe, die Ähnliches wie die Erkrankung auslösen, hochverdünnt verabreicht werden, in Globuli, kleinen weißen Kügelchen. Die Verdünnung der wirksamen Substanz ist in den Globuli allerdings so hoch, dass in ihnen praktisch keine Substanzen mehr vorhanden sind. Hahnemann glaubte, dass sich die Substanzen „zuletzt gänzlich in ihr individuelles geistartiges Wesen“ auflösen. Heute würden wir sagen, dass es die Informationen sind, welche die Globuli enthalten, und die weitergegeben werden.
Alles nur Humbug?
Für Menschen, die ein rein naturwissenschaftliches Welt- und Menschenbild haben, ist das natürlich alles nur Humbug. Alternativmedizin, Naturheilkunde, aber auch Komplementärmedizin tun sich bei ihnen schwer. Es hängt also mit dem eigenen Welt- und Menschenbild zusammen, inwieweit man alternative Heilmethoden annimmt oder ablehnt. Hahnemanns Grundgedanke, auf dem die Homöopathie heute aufbaut, beinhaltet etwas Wesentliches, das in der ganzen Diskussion oft vergessen wird: Er verlangt vom Arzt, dass er sich gut um den Patienten kümmert, auf seine Sorgen eingeht und ihn ganz persönlich behandelt. Immer wieder wird in der Naturheilkunde der „ganze Mensch“ betont. Im Mittelpunkt steht der Mensch als Ganzes, der neben dem Körper auch einen Geist und eine Seele hat. So heißt es im Leitbild der Abteilung „Naturheilkunde und Komplementärmedizin“ im Gesundheitszentrum „St. Josef“ in Meran: „Die Naturheilkunde und Komplementärmedizin bezieht alles Natürliche in den Heilungsprozess ein, da der eigentliche Ursprung des menschlichen Organismus in der Natur liegt. Kommt es zu einem Ungleichgewicht zwischen Körper, Geist und Umwelt manifestiert sich dies in Krankheit. Insbesondere sollen der Energiefluss und die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert werden. Im Mittelpunkt steht der Mensch als Ganzes. So werden unter anderem Psyche, Ernährung und Lebensumstände mitberücksichtigt.“
Immer weniger Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem
Ein ganzheitliches Gesundheitssystem, in dem die anerkannten komplementären Therapieorientierungen wie Homöopathie, Phytotherapie und Anthroposophische Medizin fester Bestandteil sind, beispielsweise in der Integrativen Medizin, wünschen sich viele Menschen ferner eine bezahlbare Medizin für alle. Das Vertrauen in das öffentliche Gesundheitssystem ist spätestens seit Covid aber im Keller. Private Kliniken und Medical Center hingegen setzen durchaus auf alternative Heilverfahren. Gutes Geschäft mit der Alternativmedizin machen Apotheken und Drogerien schon lange. Also alles nur Geschäftemacherei, wie so manche Kritiker der Homöopathie usw. vorwerfen? Der Südtiroler Pharmazeut Hannes Loacker war einer der ersten, der homöopathische und natürliche Arznei herstellte. Heute gehört die „Loacker Remedia“ zur deutschen Schwabe-Gruppe, weltweit führend in der Herstellung von pflanzlichen Arzneimitteln.
Integrative Medizin
Giuseppe Cristina leitet seit vier Jahren den Dienst für Komplementärmedizin am Meraner Krankenhaus. Der gebürtige Römer hat sich auf die Behandlung krebskranker Patienten international spezialisiert. Dabei geht er von einem integrativen Ansatz aus. „Der Patient muss in seiner Gesamtheit als Person und Kranker angenommen werden“, sagt Cristina. Es gibt nicht viele öffentliche Krankenhäuser, die in Italien Komplementärmedizin anbieten. Komplementärmedizin ist übrigens nicht Alternativmedizin, sondern sie funktioniert komplementär, also ergänzend zu etwas anderem. Das Angebot richtet sich an Tumorpatienten sowie an Menschen mit chronischen Erkrankungen und Schmerzen. Akupunktur, Osteopathie, Homöopathie, Aromatherapie bis hin zu Infusionen, die Palette der Behandlungen an der Meraner Abteilung ist groß. Für Vinschgauer Krebspatienten besteht die Möglichkeit, die komplementären Begleitinfusionen im Day-Hospital in Schlanders zu beanspruchen.
Evidenz ist nicht alles
In Zeiten, wo die öffentlichen Mittel immer geringer werden, hat es eine Gesundheitspolitik, die nicht wissenschaftsbasiert, also evidenzbasiert ist, aber immer schwieriger. 2021 hat das „Zentrum zur Dokumentation für Naturheilverfahren“ mit Sitz in Glurns seine Tätigkeit eingestellt. Christian Thuile, der die Komplementärmedizin in Meran 2009 aufgebaut und bis 2017 geleitet hat, hat den öffentlichen Dienst verlassen und ist heute den meisten Südtirolern über Fernsehen, Radio oder als Autor bekannt. Es fällt schon auf, dass alle Privatkliniken sogenannte „Alternativmedizin“ anbieten, sei es Martinsbrunn, St. Anna, St. Josef oder seien es die zahlreichen Medical-Center, die in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden sprießen. Traditionelle Europäische Medizin (TEM) nennt sich ein österreichischer Verein mit Ableger auch in Südtirol, der sich zur Aufgabe gemacht hat, überliefertes Heilwissen aus Europa wiederzubeleben und in die Schulmedizin zu integrieren. 2015 schaffte es eine Studie von Christian Thuile und Oskar Außerer in die renommierte New Yorker Fachzeitschrift „Breast Cancer Research and Treatment“. In der Studie geht es um den Einsatz der Komplementärmedizin zur Bekämpfung der Nebenwirkungen bei Brustkrebserkrankungen und -therapien. Das Ergebnis der Studie: Die Nebenwirkungen der Chemotherapie bei Patienten, die auch komplementär behandelt wurden, waren signifikant geringer als bei jenen, die keine natürliche Behandlung erhielten. Bei vielen blieben die Nebenwirkungen sogar ganz aus.
Der Mensch ist mehr als nur Materie
Die Wissenschaft kann nicht alles erklären. Auch in der klassischen Medizin sind viele der Behandlungsmethoden nicht evidenzgesichert. Wohlbefinden und Selbstheilungskräfte über natürliche Methoden zu stärken, sollten daher respektiert und auch gefördert werden. Ob Homöopathie, Phytotherapie, naturheilkundliche Praktiken, Osteopathie nur eine Placebo-Wirkung haben, ist im Grunde uninteressant. Was zählt, ist die Wirkung. Der homöopathische Patient hat immer eine aktive Rolle im Genesungsprozess, niemals eine passive. Dass die Genesung mit natürlichen Mitteln und der Aktivierung der Selbstheilungskräfte länger dauert als mit der Einnahme von z. B. Antibiotika, ist logisch.
Empathie und Hingabe sind Kennzeichen jeder guten Medizin. Dass der Mensch mehr als bloße Materie ist, hängt wesentlich mit dem persönlichen Welt- und Menschbild zusammen. Wer die seelisch-geistige Dimension im Menschen aber nicht anerkennt, wird sich immer schwertun, Medizin, die nicht evidenzbasiert ist, zu akzeptieren.
Homöopathie, Akupunktur, Kräutertherapie oder Chiropraktik: Immer mehr Menschen vertrauen auf die Heilkraft der Natur. Jeder zweite möchte im Krankheitsfall mit einer Mischung aus Schulmedizin und Naturheilkunde behandelt werden, der so genannten Integrativen Medizin. Dr. med. univ. Agnes Zöggeler war lange Zeit als Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin am Krankenhaus Bozen tätig. Seit 2 Jahren leitet sie freiberuflich das Ambulatorium für Komplementärmedizin an der ParkClinik Martinsbrunn gemeinsam mit Dr. Karmen Sanoll. Zu ihren komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden gehören Naturheilverfahren, Entspannungsverfahren und Behandlungsformen wie Akupunktur oder Phytotherapie sowie Bereiche der anthroposophischen und der Traditionell Chinesischen Medizin (TCM), die begleitend zur „Schulmedizin“ das Wohlbefinden des Menschen in den Mittelpunkt stellen. Die BAZ sprach mit ihr.
Frau Dr. Zöggeler, Sie haben sich in Komplementärmedizin spezialisiert? Der deutsche Gesundheitsminister Lauterbach scheint wenig davon zu halten und will die Homöopathie nicht mehr durch die öffentliche Hand finanzieren. Ein Rückschlag auch für die Komplementärmedizin?
Dr. Agnes Zöggeler: Herr Lauterbach hat bereits 2010 geäußert: „Man sollte den Kassen schlicht verbieten, die Homöopathie zu bezahlen“ (Zitat Spiegel). Die Kosten für die Homöopathie dürften aber eher ein geringer Satz sein, im Allgemeinen werden sie vom Patienten selbst getragen. Ich denke, dass die Komplementärmedizin seitens der Bevölkerung gesucht wird, auch ohne die Unterstützung der öffentlichen Sanität, gerade weil viele Beschwerden durchaus effizient behandelt werden können.
Viele Menschen empfinden die Schulmedizin als herzlose Reparaturanstalt, die an Symptomen herumdoktert, ohne den Menschen als Ganzes zu sehen. Können Sie das verstehen?
Der Fortschritt in der Medizin hat die Aufspaltung in die unterschiedlichen Fachrichtungen mit sich gebracht, die auch notwendig ist, um laufend mit den neuen Erkenntnissen Schritt halten zu können. Das bringt den Patienten auch große Vorteile in der Diagnose und Behandlung der Pathologien. Aber Zeitdruck und Überlastung, wie sie im öffentlichen Sanitätssystem fast zwangsläufig anzutreffen sind, lassen dem Patienten und dem Behandelnden häufig nicht den Rahmen, um dem Menschen im Ganzen seinen Platz geben zu können. Ich kann es deshalb gut verstehen, wenn manche Patienten dies als großes Limit empfinden.
Sie haben lang als Anästhesieärztin im Krankenhaus gearbeitet. Wie kamen Sie zur Komplementärmedizin?
Als ich anfing, mich in die Akupunktur einzulesen, habe ich festgestellt, dass die Traditionelle Chinesische Medizin eine empirische hochentwickelte Form der Medizin darstellt, die große Lösungsansätze bietet, wo die Schulmedizin oft nicht eine adäquate Unterstützung bieten kann. Das war für mich der Anlass, mich in der Komplementärmedizin weiterzubilden und festzustellen, dass eine Unterstützung des Patienten im Ganzen oft eine bessere Behandlung darstellt als eine einzig krankheitsbezogene Form.
Die Homöopathie hat aktuell einen recht schweren Stand, sie wird immer drastischer angegriffen. Sehen Sie für die Naturheilkunde und Komplementärmedizin ähnliche Tendenzen, dass es in so eine Richtung laufen könnte?
Ich stelle eher fest, dass mehr Menschen eine zusätzliche Unterstützung in der Komplementärmedizin suchen, die Schulmedizin und die Komplementärmedizin schließen sich keineswegs aus, sondern sollten sich ergänzen. Es werden laufend Studien durchgeführt, welche die Wertigkeit belegen. Die Studienlage ist in der Homöopathie etwas anders, es gibt zwar Studien, aber die Wirksamkeit bei körperlichen Beschwerden konnte nicht eindeutig belegt werden.
Aus dem konventionellen Lager wird der Naturheilkunde und Komplementärmedizin häufig pauschal vorgeworfen, dass nichts belegt ist und man dem Patienten doch wohl vor allem schaden kann. Was antworten Sie darauf?
Es wird vielleicht überraschen, aber auch in der Schulmedizin ist nicht jede Behandlung durch Studien belegt, ich denke da an die Covidsituation, wo es ja auch keine Basis gab, die man für die Behandlung hernehmen konnte. Aber auch die Komplementärmedizin versucht, durch Studien die Effektivität zu belegen und Grundlagenforschung als Basis zu haben, die TCM hat zusätzlich ein sehr großes empirisches Wissen, das aus Jahrtausenden Beobachtung entstanden ist. Schaden kann man einem Patienten, wenn eine Pathologie nicht als solche erkannt wird und nicht der richtigen Behandlung zugeführt wird, das gilt ganz besonders für Akutpathologien, wie Herzinfarkt, Schlaganfall…dort ist der Behandlungspfad in der Schulmedizin etabliert, sehr effektiv und darf nicht verzögert werden. Das gilt für alle Bereiche der Medizin.
Was kann die Komplementärmedizin, was die Schulmedizin nicht kann?
Die Komplementärmedizin versteht sich als „Ergänzung“ zur Schulmedizin und kann insbesondere bei chronischen Pathologien gut unterstützend wirken, sie ist sehr effektiv in der Präventionsmedizin, um vorzubeugen, dass es zu Erkrankungen kommt (z. B. stressbedingte Erkrankungen oder Mangelsituationen) und gibt dem Patienten insgesamt mehr Raum in seiner Gesamtheit.
Können Sie Beispiele nennen, bei welchen Indikationen Naturheilkunde bzw. komplementäre Medizin besonders sinnvoll und wirkungsvoll ist?
Das sind insbesondere viele Funktionsbeschwerden, wie Müdigkeit und stressbedingte Beschwerden, auch Long Covidsyndrome profitieren von einer komplementärmedizinischen Behandlung; Schmerzen in unterschiedlicher Form können behandelt werden, viele gynäkologische Bilder wie Schwangerschaftsbeschwerden, PMS, Menopausen-Beschwerden usw. können gut therapiert werden.
Wie kommt das Angebot bei den Patienten an?
Viele Patienten nehmen unser Angebot gern an und kommen auch über längere Behandlungszeiträume.
Immer mehr private Kliniken und Medical Center bieten alternative Medizin an. Nicht auch ein gutes Geschäft?
Ob es ein gutes Geschäft ist, kann ich nicht beurteilen… Aber es entspricht wohl der Nachfrage.
Was würden Sie jungen Kollegen mit auf den Weg geben, warum es sich lohnt, Naturheilverfahren und Komplementärmedizin in die Praxis zu integrieren?
Ich denke, die Verbindung der Schulmedizin, ergänzt durch einen sinnvollen komplementärmedizinischen Zusatz gibt dem Patienten ungeheuer mehr und ich hoffe, dass die Medizin der Zukunft so sein wird!