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5. Dezember 2022
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Das betende Mädchen

In der letzten Folge der „Straßengeschichten“ ging es um die Meraner Otto-Huber-Straße, wie sie zu ihrer Bezeichnung kam und wer sich hinter dem Namen verbirgt. Dieses Mal steht ein trauriges Ereignis im Mittelpunkt, das hier 1943 stattgefunden hat.

Die Otto-Huber-Straße reicht vom Evangelischen Pfarrhaus an der Passer bis zur Verdistraße und dem Segenbühel und kreuzt dabei acht andere Meraner Straßen. Meine Suche nach einer Gedenktafel, die dem Namengeber gewidmet war, hat mich vor einigen Wochen nahe des Klostersteigs und der Meinhardstraße unverhofft in einen Innenhof geführt. Dort trifft man auf ein Denkmal, das eine betende Frau mit Blick zum Himmel darstellt. Gleich zwei Tafeln bieten Erklärungen an, eine ältere aus Stein hinter der Frau und eine neuere aus Metall neben der Statue.

Blicken wir zurück in das Wendejahr des Zweiten Weltkriegs. Das faschistische Italien hatte bis 1943 an der Seite von Nazi-Deutschland gekämpft. Benito Mussolini wurde im Juli von König Vittorio Emanuele III. abgesetzt und als Ministerpräsident durch Pietro Badoglio ersetzt. Anfang September trat Italien aus seinem bisherigen Bündnis aus und schloss einen Waffenstillstand mit den Alliierten.
Daraufhin marschierten deutsche Truppen in Südtirol ein. Von den etwa 60 in Meran lebenden jüdischen Personen gelang gut der Hälfte noch die Flucht. Am 16. September wurden im Keller des erwähnten Hauses 25 Personen festgehalten – von der SS mit Hilfe des Sicherheitsdiensts, der Geheimen Staatspolizei und „einiger fanatischer Elemente des Südtiroler Ordnungsdienstes“, so informiert die Steintafel. Bei der Verhaftungsaktion stützte sich die Gestapo auf Judenverzeichnisse der italienischen Polizei, sowie auf die Kenntnisse der beteiligten Südtiroler. Unter den Opfern befanden sich u.a. ein Joghurtfabrikant, ein Rechtsanwalt, ein Kurarzt, eine Chemikerin und die 6-jährige Elena De Salvo. Die Wertsachen wurden ihnen abgenommen, es gab weder Essen, noch die Erlaubnis, die Toilette zu benutzen. Die Männer wurden vom Meraner Gestapochef Alfons Niederwieser einzeln verhört und registriert. Die Fenster blieben verschlossen, um kein Rufen und Weinen nach außen dringen zu lassen.

Noch in derselben Nacht wurden die 25 – andere Quellen sprechen von 35 oder sogar von 45 – in das Durchgangslager Innsbruck-Reichenau gebracht. Doch damit war das Martyrium keineswegs beendet. Wer Reichenau überlebte, wurde weiter nach Auschwitz verlegt und dort im Vernichtungslager Birkenau ermordet. Eine einzige Person unter ihnen, Walli Hoffmann, überlebte die Strapazen. Geboren wurde sie als Valeska Elisabeth Maria Koralek, Tochter einer jüdischen Familie, die sich 1932 in Wien mit dem Diplomaten Philipp Freiherr von Hoffmann verehelicht hatte. Das Paar lebte in der Villa Paulina in Obermais. Nach dem Tod ihres Mannes wurde sie verhaftet und deportiert, konnte aber nach zwei Jahren Lagerhaft nach Meran zurückkehren. Sie starb 60-jährig 1954.

Doch zurück zum Kunstwerk. Geschaffen hatte das Denkmal in der Otto-Huber-Straße 36 der ungarische Künstler Géza Somoskeőy, dessen Mutter Ilona Mitglied der jüdischen Kultusgemeinde in Meran war. Entstanden war es in den 1950er Jahren und sollte neben dem mittlerweile abgerissenen GIL-Gebäude „Casa del Balilla“ an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Recht viele Spuren hat er nicht hinterlassen. Ein Geza Somoskeőy taucht zwar in der lokalen Presse auf, einmal 1930 im Zusammenhang mit einem Autounfall, der glimpflich ausging, ein anderes Mal 1938 als er Opfer eines Diebstahls wurde und der Täter von den Carabinieri ausgeforscht werden konnte. Ob es sich allerdings tatsächlich um den Künstler handelt, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Die Botschaft seines Werkes dagegen bleibt unmissverständlich und mahnt für die Zukunft.
Christian Zelger