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Am Scheideweg

Die Europäische Union entstand nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern vor allem auch als Friedensprojekt. Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbinden die meisten Menschen mit der EU. Widersprüche prägen aber ihre Geschichte, erst recht seit der Osterweiterung 2004 noch mehr. In Mittelosteuropa tobt ein grausamer Krieg. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stehen in einigen Staaten auf wackligen Füßen. In diesem Spannungsfeld wird am zweiten Juni-Wochenende das neue EU-Parlament gewählt.

von Josef Prantl

Die Europawahl ist die größte grenzüberschreitende Wahl der Welt. Am Wochenende des 7. und 8. Juni 2024 werden zum zehnten Mal die 720 Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt. Obwohl das EU-Parlament mittlerweile Gesetzgebungs-, Haushalts- und Kontrollbefugnisse hat, werden die Wahlen von vielen – sofern sie sich überhaupt beteiligen – entweder als Gelegenheit gesehen, ihren nationalen Regierungen einen Denkzettel zu verpassen, oder als unwichtig abgetan. Die nationalen Regierungsparteien wollen auf jeden Fall ihre Macht festigen. Zum Beispiel in Italien. Giorgia Meloni führt ihre Partei als Spitzenkandidatin in die Europawahlen.

„Con Giorgia“
„Schreibt einfach Giorgia auf den Wahlzettel“, rief die Regierungschefin ihren Anhängern zu, als sie ihre Kandidatur bekannt gab. Das italienische Gesetz erlaubt es, bei Wahlen in der Zeile für die Vorzugsstimme nur den Vornamen einzutragen. Ein Wechsel der Ministerpräsidentin ins EU-Parlament ist ausgeschlossen. Oppositionsführerin Elly Schlein von der sozialdemokratischen PD und Außenminister Antonio Tajani von der Forza Italia treten ebenfalls als Spitzenkandidaten an. Auch von ihnen wird nicht erwartet, dass sie einen Sitz im Parlament anstreben. Der Name Meloni ist in Italien zum Markenzeichen geworden. Er ist Programm, er ermöglicht die totale Personalisierung der Politik. Die Wahl ins Europaparlament soll zu einer Abstimmung über ihre Person und ihre Art, Italien zu regieren, werden. Der Verfassungsrechtler Francesco Palermo spricht von einem missbräuchlichen Konstitutionalismus: „Das ist eigentlich der Missbrauch legitimer Mittel, um populistische Erfolge zu erzielen. “ Es gibt nur wenige Stimmen wie die des ehemaligen Regierungschefs Romano Prodi, die diese Praxis als Gefahr für die Demokratie anprangern.

„L’ Italia cambia L’ Europa“
So steht es auf den Wahlplakaten der „Fratelli d’Italia“. Dazu kommt Melonis auffallend starkes Bekenntnis zur „Mutter aller Reformen“, wie sie es nennt, nämlich dem Umbau des Regierungssystems und der Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk. Das alles erinnert an Methoden von vor 100 Jahren. Dennoch sind die Eu­ropawahlen etwas Besonderes und keineswegs unwichtig. Seit 1979 gibt es die Direktwahl. Im Juni entscheiden die Bürger in 27 Mitgliedstaaten, wer von insgesamt 720 Abgeordneten nach Brüssel oder Straßburg zieht, um dort die Stimme von rund 448 Millionen Europäerinnen und Europäern zu vertreten. Einige Länder wie Deutschland, Österreich oder Belgien haben das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt. Derzeit sind fast 200 nationale Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Sie haben sich zu 7 Fraktionen und einer Gruppe fraktionsloser Abgeordneter zusammengeschlossen. Italien entsendet 76 Abgeordnete nach Brüssel und Straßburg. Herbert Dorfmann ist Spitzenkandidat der SVP, die gemeinsam mit der Forza Italia kandidiert, da Dorfmann alleine in Südtirol nicht die erforderlichen Stimmen erhalten würde. Weitere Südtiroler Kandidaten sind Brigitte Foppa und Paul Köllensperger, aus dem italienischsprachigen Lager kommen Matteo Gazzini von Forza Italia und Diego Nicolini von der Fünf-Sterne-Bewegung.

Wachsende Macht, sinkende Wahlbeteiligung
„Die haben nichts zu sagen, das EU-Parlament ist nur Fassade“, behaupten nicht wenige. Das stimmt nicht! Das Europäische Parlament ist längst den Kinderschuhen eines reinen Beratungsgremiums entwachsen und gestaltet die Politik aktiv mit. Es kann zwar selbst keine Gesetzesinitiativen starten, muss aber Gesetzen zustimmen, damit sie in Kraft treten kön­nen. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lis­sabon 2009 verabschiedet es die meisten europäischen Gesetze gleichberechtigt mit dem Ministerrat. Das Parlament genehmigt den EU-Haushalt und kontrolliert die Verwendung der Mittel. Es wählt den Präsidenten und die Mitglieder der Europäischen Kommission, die dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Doch je mächtiger das Parlament wurde, desto geringer war die Wahlbeteiligung. Viele Menschen empfinden die EU als „Verwaltungsmoloch“, der mit seinen unzähligen Beamten und Institutionen Geld verschlingt. Tatsache ist, dass rund 55.000 Menschen für die europäischen Institutionen arbeiten, davon 33.000 für die Europäische Kommission. Das EU-Personal ist für 450 Millionen Menschen zuständig, d. h. auf 10.000 Einwohner kommt ein EU-Beamter oder Angestellter. Zum Vergleich: Die Stadt Köln beschäftigt rund 17.000 Verwaltungsangestellte. Der Brexit im Jahr 2020 war der vorläufige Höhepunkt einer Anti-EU-Entwicklung. In den Medien dominieren bis heute negative Schlagzeilen. Gerne wird die überbordende Brüsseler Bürokratie beschworen, die den Menschen das Leben schwer und kompliziert mache. 2019 trat die deutsche AFD zur Europawahl mit der Forderung an, dieses Parlament abschaffen zu wollen. Leider gelingt es Brüssel nur selten zu zeigen, was es für die Gemeinschaft leistet.

Gescheiterte Ideen
Europa ist ein kleiner Kontinent, aber reich an Staaten. Afrika ist etwa dreimal, Asien sogar viermal so groß. Europa hat heute 48 Staaten und damit fast so viele wie die beiden größten Kontinente der Erde. Rund 10 Prozent der Weltbevölkerung, etwa 750 Millionen Menschen, sind Europäer. Schon in der Zwischenkriegszeit träumten die Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Gustav Stresemann und Aristide Briand, von einem vereinten Europa. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi für eine „Paneuropa-Union“ ein. Alle europäischen Entwürfe der Goldenen Zwanziger mit ihrem Wunsch nach Frieden und Wohlstand scheiterten am erstarkenden Nationalismus. Erst 1951 wurden sie mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Wirklichkeit. Heute bekennen sich 27 Staaten zu dieser Gemeinschaft und stehen vor ihrer wohl größten Herausforderung: den Frieden in Europa zu sichern und im weltweiten Spannungsverhältnis von Demokratie und Diktatur ein freiheitliches und demokratisches Europa zu bewahren.

Der Sitzungssaal des Europaparlaments in Brüssel

Ein Signal für die Welt
Die erste Wahl des Europäischen Parlaments im Jahr 1979 hatte rein symbolischen Charakter, denn das demokratisch gewählte Organ der EU hatte keine Entscheidungsbefugnis und konnte nur beratend an der Gesetzgebung mitwirken. Doch nach und nach erkämpfte sich das Europäische Parlament Macht und Einfluss. Heute entscheidet es in wichtigen Kernbereichen der EU mit. Europa sei in politischen Sonntagsreden oft ein „rosa gefülltes Schmusethema“, sagt der Europarechtler Gabriel N. Toggenburg und ruft zur Wahl am 2. Juni-Wochenende auf: „Egal ob links, rechts oder Mitte: Europa braucht ein starkes Zeichen seiner Bürger. Ein weiteres Absinken der Wahlbeteiligung würde international als Schwäche wahrgenommen.“ Die Europäische Union befindet sich in der vielleicht ent­scheidendsten Phase ihrer 70-jährigen Geschichte. Die Fülle und Schwere der Krisen, Herausforderungen und Umbrüche, mit denen sie gleichzeitig konfrontiert ist, ist beispiellos: Rivalität mit China, Ukraine-Krieg, Migration, Klimakrise, schwächelnde Wirtschaft, möglicher Trump-Sieg in den USA.
„Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, sollte Soldatenfriedhöfe besuchen“, hat der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal gesagt. Es gibt eigentlich nur zwei Alternativen für die Europäische Union: Entweder sie zerbricht oder sie integriert sich weiter. In Freiheit zu leben ist etwas, das wir bewahren sollten.

 

Das Wahlrecht nicht leichtfertig aufs Spiel setzen!

Eberhard Daum ist vielen von uns als langjähriger RAI-Redakteur und Moderator bekannt. Dabei hat der gebürtige Traminer als Dolmetscher begonnen. Von 1976 bis 1981 arbeitete Daum für die EU-Kommission in Brüssel.

Eberhard Daum

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Zeit in Brüssel?
Eberhard Daum: Ich war nach meinem Studium fünf Jahre als Dolmetscher in Brüssel tätig. Mein Arbeitgeber war die Kommission, doch gearbeitet habe ich – so wie auch alle anderen Dolmetscher – auch für den Rat. Ich denke sehr gerne an diese Zeit zurück, weil sie mir direkte Einblicke in diesen großen Apparat ermöglicht hat. Ich habe in vielen Sitzungen miterlebt, wie um Entscheidungen gerungen wird und wie schwierig es ist, die Interessen so vieler Länder unter einen Hut zu bringen. Das ist eine tägliche Herausforderung, aber ich finde es großartig, dass die EU sie annimmt.

In knapp einem Monat wählen wir das neue Europaparlament. Warum sollten wir zur Wahl gehen?
Die Antwort darauf ist für mich eindeutig: Wahlen sind ein Bürgerrecht! Man sagt zwar normalerweise, wählen zu gehen sei Bürgerpflicht, doch ich möchte demgegenüber herausstreichen, dass wir uns vor Augen halten müssen, welche Errungenschaft das Wahlrecht darstellt. Es gibt so viele Länder auf der Welt, wo die Menschen keine Möglichkeit der Mitentscheidung haben, wo Wahlen nichts anderes als zweifelhafte Legitimation für despotische Machthaber sind, wo das Ergebnis bereits vor der „Wahl“ feststeht. Für uns Bürgerinnen und Bürger der sogenannten freien Welt sind Wahlen hingegen so selbstverständlich, dass wir dieses Recht vielfach leichtfertig aufs Spiel setzen. Noch einmal: Wählen ist ein Recht, die Alternative ist Diktatur.

Die diesjährige Europawahl wird von vielen als Schicksalswahl für die Europäische Union eingestuft, weil Parteien erstarken, die einen Rückzug ins Nationale favorisieren und das Projekt der europäischen Einigung grundsätzlich in Frage stellen. Wie bewerten Sie den Wahlausgang?
Ich habe keine Ahnung, wie die Wahlen zum Europaparlament ausgehen. Schenkt man aber den Umfragen, den politischen Kommentatoren und Analytikern Glauben, dann könnte es einen spürbaren Rechtsruck geben. Für den Grundgedanken der Europäischen Union wäre das leider ein Rückschritt, denn rechte Politik steht grundsätzlich dafür ein, die eigenen Interessen über jene der anderen zu stellen, sie will nicht mehr Europa, sondern weniger, sie steht für Nationalismus und Egoismus, und sie bietet simple Antworten auf schwierige Fragen an.

Wie erklären Sie sich, dass sich so viele Menschen wieder den Nationalisten zuwenden?
Mich erschreckt dieses Phänomen, und ich frage mich immer wieder, wie es möglich ist, dass den Populisten und Scharfmachern immer mehr Menschen auf den Leim gehen. Denken wir beispielsweise an Donald Trumps trotziges „America first!“, an seine primitive Rhetorik, die den politischen Gegner zum Feind macht und in der kein Platz ist für Kompromiss und parteiübergreifende Verantwortung. Die Gräben in den USA werden immer tiefer, und die Hälfte der Bevölkerung sind immer noch fanatische Trump-Anhänger. Ich sehe im Wesentlichen zwei Gründe für den zunehmenden Nationalismus: Zum einen die Ignoranz vieler Menschen und zum anderen das Problem Migration. Mit „Ignoranz“ meine ich nicht notgedrungen Dummheit, sondern vielmehr die fehlende Bereitschaft, sich selber ein Bild von einer Sache zu machen, sich verschiedene Meinungen anzuhören, Für und Wider abzuwägen. Stattdessen überlässt man das Denken und Entscheiden denjenigen, die es am besten verstehen, den Bauch und nicht den Kopf der Menschen anzusprechen. Die wachsende Zuwanderung dürfte zur Nagelprobe für unsere Demokratie werden. Die Migration ist in meinen Augen der stärkste Nährboden für den allenthalben zu beobachtenden Rechtsruck. Es braucht nach meiner Überzeugung einen Mittelweg zwischen „Ausländer raus!“ und „Wir schaffen das!“ Viele Menschen kommen zu uns, weil Menschenrechte bei uns kein Fremdwort sind und weil sie in der Demokratie Rechte genießen, von denen sie in ihren Herkunftsländern nur träumen können. Im Westen genießen sie Gastrecht, Religionsfreiheit und soziale Unterstützung. Vor allem aber Schutz vor staatlicher Willkür. Nicht selten aber blühen im Schutz der Demokratie antidemokratische Tendenzen. Ich glaube daher, dass unsere Demokratie wehrhafter werden muss. Demokratie muss verteidigt werden, und zwar deutlicher als derzeit, wo sie uns zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Aber Demokratie ist nicht selbstverständlich, sie muss gelebt und gepflegt werden. Tag für Tag.

In Italien haben sich namhafte Politiker, darunter sogar Giorgia Meloni, als Kandidaten aufstellen lassen, ohne wirklich dann ins Europaparlament zu wechseln. Finden Sie das demokratiepolitisch nicht bedenklich?
Für mich ist das ehrlich gesagt ein Skandal. Und zwar aus dreierlei Gründen. Zum ersten ist es eine Abwertung der Wahl, die zum Stimmungsbarometer für politische Parteien degradiert wird. Zum zweiten sendet man die Botschaft, die Europawahl sei nicht wichtig, man kandidiere nur so zum Spaß. Giorgia Meloni hat sogar vorgeschlagen, nur “Giorgia” auf den Wahlzettel zu schreiben. Das ist Machtarroganz und politische Unkultur, die ein demokratisches Grundrecht mit Füßen treten. Und drittens müssen wir uns fragen, was mit den Stimmen, die für die Pseudo-Kandidaten abgegeben werden, geschieht.

Wie groß ist Ihre Sorge über Wahlmanipulation durch Fakenews?
Die Angst vor den Fakenews ist bei mir leider sehr groß. Im Zeitalter der sogenannten Massenkommunikation ist die Masse leider von der Kommunikation, die ja in zwei Richtungen verlaufen müsste, ausgeschlossen. Hinzu kommen die sozialen Medien, wo jedem Scharlatan von seinen Followern bereitwillig die Füße geküsst werden. Und schließlich – und das ist das Schlimmste – ist es heute dem normalen Menschen nicht mehr möglich festzustellen, ob ein Bild manipuliert ist oder nicht und welche von den unterschiedlichsten Darstellungen ein und desselben Tatbestandes die wahre ist.

Leere Werbetafeln: Würde es nach der Werbung gehen, sind die kommenden Europawahlen scheinbar unwichtig

Kompetenzen von der europäischen Ebene zurück auf die nationale Ebene, also zu den Mitgliedstaaten zu übertragen, fordern immer stärker die rechten Parteien. Leiten wir damit aber nicht das Ende der Union ein?
Ja, eindeutig. Wenn wir unter dem Dach der EU leben wollen, dann müssen wir auch die Europäische Union als Dachorganisation akzeptieren. Und das heißt, Kompetenzen von den Mitgliedsstaaten an Brüssel abzutreten. Natürlich ist die oft vorgetragene Kritik an der Schwerfälligkeit des Apparates und an der Reglementierungswut der EU-Organe berechtigt. Aber ich glaube, das hat man in Brüssel zwischenzeitlich erkannt. Das Ziel wird immer ein Kompromiss sein, mit dem die 27 Mitgliedsstaaten leben können.

Frankreich und Ungarn schickten Abordnungen zur „Inthronisierung“ von Putin kürzlich nach Moskau. Zugleich tobt der Ukrainekrieg. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sorgt immer wieder für Aufsehen, weil er sich sichtlich wenig um die Grundwerte der EU schert. Kann eine EU mit solchen Widersprüchen noch glaubwürdig sein?
Orban stellt die EU vor eine große Herausforderung: Er nimmt zwar bereitwillig das Geld, das von Brüssel nach Budapest fließt, fordert sogar ständig mehr, pfeift aber andererseits auf rechtsstaatliche Prinzipien, auf denen die EU und ihre Mitgliedsstaaten fußen. Ich kann dem Orban-Phänomen allerdings auch etwas Positives abgewinnen. Die EU ist nämlich gezwungen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie sie sich verhalten soll, wenn jemand Gemeinschaftsbeschlüsse torpediert, Presse und Gerichtsbarkeit im eigenen Land knebelt und meint, die EU sei nichts anderes als ein Geldautomat. Wir haben bereits erlebt, dass die EU für Ungarn bestimmte Gelder vorübergehend zurückbehält. Sie sollte ruhig einen Schritt weitergehen und sie bei offensichtlicher Verletzung von EU-Prinzipien kürzen oder gar streichen. Und schließlich muss die EU auch über eine Überarbeitung des Einstimmigkeitsprinzips nachdenken. Was von den Gründungsvätern der EWG 1957 als demokratisches Schutzinstrument eingeführt wurde – kein großer Staat soll über die legitimen Interessen eines kleinen Staates drüberfahren können – erweist sich zunehmend als Hemm­schuh. Hier besteht Handlungsbedarf, was Brüssel auch erkannt hat.

Man hat den Eindruck, dass die EU-Abgeordneten im Grunde wenig zu melden haben. Die Ernennung von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Kommission zum Beispiel wurde von den nationalen Regierungen beschlossen. Ist die Europäische Union eigentlich demokratisch genug?
An der demokratischen Legitimierung der EU hätte ich keinen Zweifel, denn schließlich sind alle politischen Mandatare der verschiedenen EU-Organe demokratisch gewählt.
Das gilt für die Kommissare genauso wie etwa für die Parlamentarier. Ursula von der Leyen wurde zur Kommissionspräsidentin, nachdem sich der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs nicht auf einen der zur Europawahl 2019 angetretenen Spitzenkandidaten einigen konnte. Sie wurde vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit der Mitglieder gewählt.

Welche gemeinsamen Werte sind für Sie im gemeinsamen Haus „Europa“ unverzichtbar?
All das, was eine echte Demokratie ausmacht: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, freie Wahlen, Pluralismus und Meinungsfreiheit. Und als Fundament die Gewaltenteilung in den einzelnen Mitgliedsstaaten.

Ist es überhaupt denkbar, ein Europa zu erreichen, das „eine“ Regierung, „ein“ Parlament und „ein“ Gericht für alle hat?
Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Eine Regierung haben wir ja bereits, ein Parlament auch und ein Gericht, den EUGH, ebenso. Allerdings wird der Ruf nach einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik immer lauter. Eine starke EU braucht über kurz oder lang einen EU-Außenminister, der im Namen aller 27 Länder sprechen kann. Für die Verteidigung, die mit der russischen Ukraine-Invasion eine neue Dimension erhalten hat, gilt dasselbe.

Zum Schluss, was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten politischen Herausforderungen der EU?
Die ausufernde Migration, der Klimawechsel, eine kritische Analyse des Mantras von der unablässig wachsen müssenden Wirtschaft und die Disziplinierung von Mitgliedsstaaten, die EU-Prinzipien missachten.

 

Drei Fragen an Oskar Peterlini, Exsenator und Professor an der Freien Universität Bozen

Vom 6. bis 9. Juni sind Europawahlen, aber viele würden das Euro-Rad am liebsten zurückdrehen.  Steht die Europäische Union am Scheideweg?
Oskar Peterlini: In vielen Europäischen Ländern möchten Rechtsparteien das Rad der Geschichte zurückdrehen. Man pocht wieder auf den Nationalstaat und verlangt in populistischer Weise die „Rückgabe“ von Zuständigkeiten an den Staat, in dem man der EU fürs eigene Versagen die Schuld gibt. In Italien ist es vor allem die Lega-Salvini, die sogar den Austritt aus der EU (ItalExit) und aus dem Euro verlangt hat. Meloni mit ihrer postfaschistischen Partei Fratelli d‘ Italia hat sich zwar wider Erwarten auf dem europäischen Parkett elegant bewegt, betont aber ebenso die Notwendigkeit, die Souveränität des Staates zu stärken, was gleichbedeutend mit Rücknahme von Zuständigkeiten von Europa ist. Beide Parteien sind an der Regierung! Wie schnell das gehen kann, hat uns Großbritannien gezeigt. Die Jugend, die für die EU war, hat sich durch mangelnde Beteiligung an der Wahl selbst die Zukunft vertan. Wählen ist also auch für uns entscheidend!

Oskar Peterlini

Wie viel Kompromiss verträgt Europa und wo liegen die roten Linien in der Politik?
Wir verdanken dem Humanismus des alten Griechenlands und dem Christentum ein tiefgründendes Fundament von Werten, die unser Zusammenleben prägen. Diese bilden die rote Linie. Große Denker, von Sokrates, Platon, Aristoteles bis Locke, Montesquieu, Rousseau, Kant u.v.a. haben die Grundlagen für den Rechtsstaat, die Gewaltentrennung, die Demokratie, die Solidarität geschaffen, an denen nicht gerüttelt werden darf. In den meisten Staaten der Welt herrschen Diktaturen, in denen die Menschenwürde und die Meinungsfreiheit unterdrückt werden. Aber auch bei uns zeigen viele Tendenzen in eine autoritäre Richtung., z.B. die Verfassungsreform mit Direktwahl des Premiers und die Justizreform in Italien. Dagegen gibt es ein Rezept: Nur die allerdümmsten Kälber, wählen ihre Metzger selber.

Braucht die EU mehr Macht und muss das Vetorecht der Nationalstaaten zugunsten eines Mehrheitsprinzips reformiert werden, damit die EU handlungsfähig bleibt?
Die EU ist die Summe der Nationalstaaten, die es zu überwinden gilt. Grenzen haben in der Geschichte nur Kriege, Blut und Tränen gebracht. Deshalb muss die EU weiter wachsen, sich vom Veto einzelner Staaten trennen und stärker auf die Regionen aufbauen, in denen die Menschen noch aktiv mitgestalten können. Die Herausforderungen der Zukunft, wie die Umweltkatastrophe und die Migration müssen gezielter angegangen werden. Grenzschutz bekämpft nur die Symptome, die Ursachen liegen in der Armut. Mit Investitionsförderungen in Afrika wäre viel mehr getan.

 

Gesund leben in einem gemeinsamen Europa

Die fünf Schulen des Meraner Schulzentrums begingen den Europatag mit Vorträgen, Workshops und musikalischen Darbietungen.
Der diesjährige Europatag, der bereits zum achten Mal von den fünf Schulen im Schulzentrum von Meran veranstaltet wurde, stand unter dem Motto „Gemeinsam für ein gesundes Europa!“. Rund 200 Schüler sowie ihre Lehrpersonen deutscher und italienischer Muttersprache diskutierten mit Experten über Gesundheit in all ihren Facetten sowie über die Zukunft der Europäischen Union vor dem Hintergrund einer krisengeschüttelten Welt.

Die Gesellschaft tue sich schwer, Krankheit zu akzeptieren, sagte Primar Herbert Heidegger und erläuterte den Schülern das Modell der Salutogenese. 100 % krank oder 100% gesund gebe es nicht, so der Primar. Eine ethische Debatte sei zusehends notwendig, weil die Mittel im öffentlichen Gesundheitswesen knapper werden, betonte er auch in seiner Rolle als Präsident des Landesethikkomitees. Die Chancen auf eine bessere Gesundheit steigen auf alle Fälle mit einer gesünderen Lebensweise, ermunterte Heidegger schließlich die Jugendlichen.

Die gebürtige Britin Jessica Delves, die am Centre for Global Mountain Safeguard Research (GLOMOS) und der EURAC forscht, wies darauf hin, dass unsere Lebensweise krank mache und die natürlichen Lebensgrundlagen zerstöre. Die Gesundheit des Menschen ist wesentlich mit einem intakten Ökosystem und stabilem Klima verbunden. Sie postulierte Lebensstile, die gleichzeitig den Schutz der Natur gewährleisten. Die Forscherin äußerte sich kritisch über unser Wirtschaftssystem, das sich über Wachstum definiert. Ihrer Auffassung nach gibt es in der Natur nichts, das immer wachsen muss: „Nur Krebszellen wachsen immer, in der Natur gibt es nichts, das immer wachsen mus“, so Del­ves.

Im Rahmen ihrer Ausführungen thematisierte Maria Angela Gonzàlez Inchaurraga das Recht auf Gesundheitsversorgung eines jeden Menschen. Die stellvertretende Primarin an der Dermatologie am Krankenhaus Meran demonstrierte anhand von Beispielen aus den Favelas in Brasilien, der Ukraine und Paraguay, dass wir weltweit weit davon entfernt sind, dieses Ziel zu erreichen. Des Weiteren äußerte sie sich kritisch zu den Privatisierungen im Gesundheitsbereich, welche in unserem Land in den vergangenen Jahren eine exponentielle Zunahme erfahren hätten. Den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit beleuchtet schließlich der langjährige Leiter des Dienstes für Diätetik und klinische Ernährung des Gesundheitsbezirks Bozen, Prof. Lucio Lucchin. Die Nahrungsmittelversorgung der Menschheit wird zu einer der größten Herausforderungen werden, wie Lucchin ausführte. Die gegenwärtigen Lebensmittelsysteme seien nicht nachhaltig und hätten Auswirkungen auf die Lebensmittelsicherheit, die Gesundheit, die Umwelt, die Wirtschaft sowie die soziale Gleichheit haben.

Im zweiten Teil der Tagung haben die Schüler in gemischten Gruppen zu verschiedenen Themen gearbeitet. Dabei ging es zum Beispiel um gesunde Ernährung, das EU-Programm „Farm to Fork”, Dr. Google: Fluch oder Segen? künstliche Intelligenz und Medizin, Gesundheitsvorsorge: Sport und Bewegung, gesunde Schule, gesunder Lebensstil, Stressbewältigung und psychische Gesundheit. Gleichzeitig gab es vier Konferenzen mit Experten: Darunter eine Konferenz mit Altsenator Oskar Peterlini, dem ehemaligen RAI-Redakteur Eberhard Daum und Exdirektor Franz Josef Oberstaller zur Zukunft der EU. „Die Vorträge, Workshops und die Arbeit in den mehrsprachigen Schülergruppen sind ein gutes Beispiel dafür, wie das Zusammenleben und die Zusammenarbeit in diesem Schulzentrum in Meran als kleines Europa funktionieren“, sagte Schuldirektor Alois Weis.