Kaum ein Mann in der Kirchengeschichte ist so umstritten wie Martin Luther. Für die einen ist er ein Spalter, ein Störenfried und Ketzer, für andere der Reformer, Erneuerer und Begründer der evangelischen Kirche.
Seine Lehren haben auch in Tirol ihre Spuren hinterlassen. Ein Rückblick.
1796 vertrauten sich die Tiroler in ihrer großen Not – das Land drohte von napoleonischen Truppen überrollt zu werden – dem „Heiligsten Herzen Jesu“ an. Am 1. Juli traten die Tiroler Landstände in Bozen zusammen, um über die Situation zu beraten. Es war die Idee des Stamser Abtes Sebastian Stöckl, das Land dem „Heiligsten Herzen Jesu“ anzuvertrauen und so göttlichen Beistand zu erhalten. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Man achtete besonders darauf, dass dieser feierliche Schwur das ganze Land betraf, um damit ein einigendes Band zu schaffen. Der Herz-Jesu-Sonntag wurde zum hohen Tiroler Feiertag.
Der Katholizismus hatte in Tirol seit jeher einen festen Stand und umso schwieriger war es für andere religiöse Gemeinschaften, hier Fuß zu fassen. Trotz der vehementen Abwehr durch die Bischöfe und Landesherren entstanden mit der Zeit aber auch bei uns jüdische, evangelische, anglikanische und orthodoxe Kirchengemeinden. Die Stadt Meran um die Jahrhundertwende ist dafür das beste Beispiel. Dabei verlief der katholische Abwehrkampf keineswegs unproblematisch. Vor allem die Reformbewegung um Martin Luther brachte das Land im 16. Jahrhundert vor eine schwierige Zerreißprobe.
Die Bedeutung Martin Luthers
Nicht ohne Grund widmet sich eine große Ausstellung auf Schloss Tirol zur Zeit dem Reformator und seiner Bedeutung für Tirol. Sind es doch genau 500 Jahre her, dass Luther mit seinem berühmten Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 die damalige Welt ins Wanken brachte. Die symbolträchtige Szene wirkt bis heute fort – auch wenn sie so wohl nie stattgefunden hat. Mit der Reformation beginnt aber auch ein Zeitalter der konfessionellen Polarisierung mit Konflikten und Kriegen, an dessen Ende Mitteleuropa durch den Dreißigjährigen Krieg von 17 Millionen auf 10 Millionen Menschen geschrumpft sein wird.
Ohne Luther wäre die Geschichte der letzten 500 Jahre in Europa anders verlaufen. Er hat nicht nur die Bibel ins Deutsche übersetzt und so wesentlich zur Entwicklung der deutschen Sprache beigetragen. Weniger bekannt ist, dass es bereits vor Luther eine österreichische Bibelübersetzung gab. Eine Gesamtausgabe dieser sogenannten österreichischen Bibel soll in den nächsten Jahren herauskommen.
Bildung war für Luther jedenfalls wichtig. Zu seiner Zeit konnten nämlich nur wenige Menschen lesen und schreiben. Bildung gehörte zu den Privilegien des Adels und der Geistlichkeit. Luther fand das ungerecht und machte sich stark für Bildungsgerechtigkeit. Jeder sollte lesen und schreiben können, unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Dank der Reformatoren entstand eine regelrechte Bildungsbewegung und es kam zu zahlreichen Schulgründungen. Historiker sehen darin auch den Grund, dass die nördlichen und protestantisch geprägten Staaten die vorwiegend katholischen Südstaaten Europas in den kommenden Jahrhunderten weit überholen werden.
Auch auf die Musik hatte die Reformation großen Einfluss. Luther selbst sang gerne und spielte dazu die Laute. Die Erfindung des deutschsprachigen Kirchenliedes geht auf ihn zurück. „Nun freut euch, lieben Christengmein“ aus dem Jahre 1523 gilt als eines der ältesten Kirchenlieder von Martin Luther. Er hat sowohl die Melodie komponiert, als auch den Text geschrieben – nicht in der damals üblichen Liturgiesprache Latein, sondern allgemein verständlich auf Deutsch.
Luther nutzte auch geschickt die Medien seiner Zeit. Der Erfolg der Reformation hing maßgeblich mit der Erfindung des Buchdrucks zusammen. Luther war zu seiner Zeit schon ein Bestseller-Autor, auch dank des guten Marketings der Maler-Werkstatt Cranach in Wittenberg. Lukas Cranach der Ältere und der Jüngere wirkten als eine Art Werbeagentur für Luther. Die vielen Flugblätter verbreiteten seine Anschauungen in Windeseile wie die sozialen Medien von heute. Aber Luther war nicht der Einzige, der kirchliche Erneuerung verlangte.
Die Reformation in Tirol
Die Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde in Tirol ist eine schmerzvolle. Ende des 17. Jahrhunderts wurden die Defregger Protestanten in Osttirol vertrieben, bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts alle „Evangelischen“ aus Tirol. Erst 1876 wurde in Innsbruck eine evangelische Gemeinde gegründet. Die Evangelische Gemeinde Meran (EGM) entstand um 1850 im Kontext des aufblühenden Kurbetriebs. 1861 wurden ein Bethaus mit Pfarrwohnung gestiftet und ein Evangelischer Friedhof eingerichtet, 1870 der erste Pfarrer berufen.
Vor allem durch die Bergwerksknappen, die aus Sachsen, der Heimat Luthers kamen, erreichte die Reformation im 16. Jahrhundert auch Tirol. Schwaz und Hall wurden bald schon zu Zentren der neuen Lehre. Die Schwazer Chronik vermeldet schon 1521 einen großen Zulauf von Predigern des neuen Evangeliums. In Sterzing verbreitete ein ehemaliger Dominikanermönch namens Hans Vischer und im Pustertal der Innicher Chorherr Matthias Messerschmied „etliche lutherische Traktate und Artikel“. In Klausen verkündete 1525 kein Geringerer als Luthers einstiger Verteidiger Andreas Karlstadt die neue Lehre. Viel bedeutender und nachhaltiger sollten jedoch zwei Persönlichkeiten dieser Zeit werden: Michael Gaismair und Jakob Hutter.
Der Bauernaufstand
Während die Bischöfe von Brixen und Trient und Landesfürst Erzherzog Ferdinand den lutherischen Neuerungen Herr zu werden versuchten, brach in Brixen nicht nur aus religiösen, sondern vor allem aus sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gründen der berühmte Tiroler Bauernaufstand aus. Auslöser war die angeordnete Hinrichtung von Peter Paßler aus Antholz am 9. Mai 1525 in Brixen. Rund 5000 Männer stürmten die Bischofsstadt und plünderten die Häuser des Klerus und die bischöfliche Burg, die heutige Hofburg. Auch das naheliegende Kloster Neustift wurde nicht ausgespart. In der Folge wählten die aufständischen Bauern den Sterzinger Michael Gaismair zu ihrem Feldhauptmann. „In ganz Deutschland geht es drunter und drüber, es gibt keine Hoffnung mehr außer in der Barmherzigkeit Gottes, und schon hat das Durcheinander in diesem Lande auch begonnen“, schrieb damals der päpstliche Nuntius am Hof von Erzherzog Ferdinand, Girolamo Rorario, an einen Freund.
Die 64 Meraner Artikel und Gaismairs Landesordnung
Anfang Juni kamen die Bauern in Meran zusammen und verabschiedeten 64 Artikel, die weitgehend auf den Ideen der Reformation fußten. Gaismair wurde indessen unter Versprechungen nach Innsbruck gelockt und festgenommen. Aus dem Südtiroler Reformer wurde ein Revolutionär, der nach seiner Flucht aus dem Gefängnis seine berühmte Landesordnung verfasste, die zu den bedeutendsten Staatsprogrammen der Geschichte gehört. Tirol sollte nach ihm zu einer freien, sozialen und demokratischen Bauern- und Knappenrepublik mit Sitz in Brixen werden. Dort sollte auch eine theologische Hochschule entstehen. Gaismair strebte die Einführung der Reformation nach dem Modell des Schweizer Reformators Ulrich Zwingli an, den er kurz zuvor in Zürich getroffen hatte. Es forderte Schulbildung für alle, öffentliche Kranken- und Pflegeheime sowie eine staatlich gelenkte Wirtschaft mit Enteignung der Bergwerke, der Adels- und Kirchenbesitzungen. Mit seiner Vorstellung eines Sozialstaates war er seiner Zeit weit voraus und den Mächtigen mehr als nur ein Dorn im Auge. Vor dem gewaltigen Söldnerheer des Landesfürsten floh er nach Venedig und wurde 1532 schließlich von Kopfgeldjägern in Padua ermordet. Seine Landesverfassung gilt bis heute als eine der großen Staatsverfassungen der Menschheitsgeschichte.
Die Hutterer aus dem Pustertal
Während des Bauernaufstandes breitete sich in Tirol wie ein Lauffeuer das Täufertum aus. Die Täufer lehnten die Kindertaufe ab und propagierten die Erwachsenentaufe. Von ihren Gegnern wurden sie daher Wiedertäufer genannt. Der bedeutendste unter den Tiroler Täufern war der Hutmacher Jakob Hutter aus Moos bei St. Lorenzen im Pustertal. 1529 errichtete er in Welsberg die erste Täufergemeinde. Als es in Tirol zu einer regelrechten Treibjagd gegen die stark zunehmende Zahl der Täufer kam, flüchtete Hutter nach Mähren (Tschechien), wo er die „Gemeinschaft der Hutterischen Brüder“ gründete. Als er 1535 nach Tirol zurückkehrte, wurde er in Klausen verhaftet, nach Innsbruck überführt und dort am 25. Februar 1536 vor dem „Goldenen Dachl“ verbrannt. Eine Gedenkinschrift erinnert daran. Nach grausamen Verfolgungen in ganz Europa flohen die Hutterer nach Nordamerika, wo heute rund 45.000 Anhänger in den USA und in Kanada in Gütergemeinschaften nach dem Vorbild der christlichen Urgemeinden abgeschieden leben. Sie sprechen noch immer das Hutterische, ein dialektal gefärbtes Deutsch als Muttersprache.
Spiritualität jenseits von Religionen
Der Abwehrkampf der Reformation hat in Tirol Wunden aufgerissen, zu grausamen Verfolgungen und auch zu Unmenschlichkeit geführt. Mit dem Protestantenpatent von Kaiser Franz Joseph 1861 kam es zwar – nicht ohne heftigen Widerspruch in Tirol – zu ersten evangelischen Kirchen- und Gemeindegründungen. Von einem toleranten Miteinander der Religionen sind wir aber bis heute noch weit entfernt. Mit Besorgnis blicken wir auf die Radikalisierung innerhalb der großen Konfessionen. Was mag den Dalai Lama wohl bewogen haben, Folgendes zu sagen: „Alle großen Weltreligionen mit ihrer Betonung der Liebe, des Mitgefühls, der Geduld, Toleranz und Vergebung können innere Werte fördern. Die Realität unserer heutigen Welt ist jedoch, dass diese ethische Festigung durch die Religion nicht mehr länger adäquat ist. Aus diesem Grund komme ich zunehmend zur Überzeugung, dass die Zeit gekommen ist, über (neue) Wege der Spiritualität und Ethik jenseits der Religionen nachzudenken.
Uns eint mehr, als uns trennt
Pfarrer Martin Krautwurst kommt aus Jena (Thüringen) und ist seit 2014 Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Meran.
Die Gemeinde zählt rund 400 Mitglieder und erstreckt sich von Sulden am Reschenpass bis nach Arco am Gardasee.
In den Sommermonaten kommen viele Gäste (über eine Million allein in Meran) dazu, die den Gottesdienst in der evangelischen Christuskirche in der Carduccistraße feiern. Ein Gespräch mit dem Pfarrer über das Lutherjahr und die „Evangelischen“ in Tirol.
BAZ: Herr Pfarrer Krautwurst, wie ist es, in einem erzkatholischen Land evangelischer Pfarrer zu sein?
Pfarrer Martin Krautwurst: Spannend, interessant und sehr schön. Das Leben in einer Diaspora bin ich gewohnt. Im Osten von Deutschland lebt man in einer Diaspora des „Atheismus“, geprägt durch die zwei Diktaturen in der Zeit des Nationalsozialismus und den 40 Jahre DDR-Sozialismus. Ich nehme die Herausforderung gerne an und erfahre hier in Südtirol eine große Offenheit und ein gutes Miteinander mit meinen katholischen Kollegen und den katholischen Gemeinden. Und natürlich sind Landschaft, Klima, Kultur und Tourismus zauberhaft.
Die evangelische Kirche feiert heuer das Lutherjahr. Für viele Katholiken ist der Mann aber nicht unbedingt ein „Heiliger“. Was zeichnet Luther aus, dass man ihn heuer hochleben lässt?
Ich bin überrascht, wie groß das Interesse an Martin Luther und der Reformation hier ist. Ich habe das Gefühl, dass auch die Südtiroler nach Aufklärung, Aufarbeitung und ihren eigenen reformatorischen Wurzeln suchen. Immer mehr Fresken, Malereien und zahlreiche Schriften kommen zum Vorschein, die davon erzählen, wie weit der reformatorische Gedanke hier schon vorangeschritten und verbreitet war. Martin Luther war kein „Heiliger“, das wollte er auch nie sein; im Gegenteil, die Heiligenverehrung lenkte seiner Meinung nach viel zu sehr vom eigentlichen Gottesglauben ab. Martin Luther hatte seine Ecken und Kanten, er war Rebell und Aufrührer. Er hatte seine Schattenseiten im Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen, und dies wird auch sehr kritisch reflektiert und aufgearbeitet. Aber er war mit seiner Bibelübersetzung und seinen Schriften der Vorreiter für Aufklärung und Freiheit. Er prägte die deutsche Sprache, das Recht auf Bildung und das Freiheitsbewusstsein der Menschen wie kein anderer.
Lange Zeit wurden in Tirol Menschen anderen Glaubens grausam verfolgt. Wäre eine Entschuldigung von öffentlicher Seite nicht längst überfällig?
Ja, eine öffentliche Entschuldigung würde zumindest deutlich machen, dass dieses Unrecht von damals auch heute als Unrecht gesehen wird. Eine geschichtliche Aufarbeitung ist notwendig und wichtig, damit ähnliche Fehler in Zukunft nicht wieder geschehen. Genauso wichtig sehe ich aber heute auch, dass man einen fairen Umgang miteinander und eine Akzeptanz mit Andersdenkenden und Andersgläubigen pflegt.
Wie steht es heute um das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten?
Ich glaube, es ist sehr deutlich geworden, dass uns viel mehr verbindet, als uns trennt. Ob heute jemand katholisch oder evangelisch, orthodox oder freikirchlich ist, sollte nicht wichtig sein. Wichtig ist, wie man sich als Christ gibt und lebt, wie man Gemeinschaft und das Zusammenleben prägt und bereichert.
Ist eine Einigung von Katholiken und Protestanten realistisch?
Ich spreche schon heute von „einer“ Kirche, wenn auch in unterschiedlichen Konfessionen. Es ist und bleibt die Kirche Jesu Christi, Jesus Christus ist und bleibt ihr Haupt. Keiner sollte dem anderen das Recht, Kirche zu sein, in Frage stellen oder gar aberkennen. Dass es dabei Unterschiede in Glaubensfragen und in der Glaubenspraxis gibt, sehe ich nicht so dramatisch. Warum sollte Kirche nicht auch vielfältig sein? Lieber eine bunte und lebendige Kirche als einen Einheitsbrei, in dem sich der Einzelne nicht mehr wiederfindet. Die Bewahrung eigener Werte, ein ehrlicher Umgang miteinander und die Akzeptanz des Anderen sind doch urchristliche Motive. Wenn es uns gelingen könnte, mehr voneinander zu lernen und dem Miteinander – zum Beispiel in der Abendmahlsfrage – mehr Gewicht zu schenken, dann wäre das ein großer Erfolg.
Wie sehen Sie die Zukunft der evangelischen Gemeinde in Meran?
Die evangelische Gemeinde in Meran ist im Wachsen, trotz der zurückgehenden Zahlen in Europa. Ich erlebe die evangelische Gemeinde derzeit als eine gute Lebens- und Glaubensgemeinschaft, die sich auf die wesentlichen Dinge konzentriert. In ihrer Lebensbegleitung macht sie deutlich, dass der Glaube als Geschenk und großer Schatz sowie als Fundament im Leben erfahrbar wird. Das Interesse an inhaltlicher Arbeit, an gelebter Gemeinschaft und auch an gemeinsamen Gottesdiensten wächst.
Das Interesse ist groß, das zeigt auch die Tatsache, im September 2018 den ZDF-Fernsehgottesdienst live aus Meran europaweit zu übertragen.
von Josef Prantl