Sebastian Vigl ist Heilpraktiker in Berlin. Aufgewachsen ist er in Meran als Sohn des Hautarztes und ehemaligen Primars von Bruneck, Wolfgang Vigl, und der Meraner Oberschullehrerin Renate Wutte. Seit einer schweren Erkrankung ist er vor allem als Autor tätig.
Als Verfasser zahlreicher Fachartikel, von drei Büchern und als Mitarbeiter der deutschen Gesellschaft für Gesundheitsinformationen im Netz (DEGIN) hat sich Sebastian Vigl mittlerweile einen Namen gemacht. Nach der Matura am humanistischen Gymnasium „Beda Weber“ zog es ihn – nach Zwischenstationen in Salzburg und Wien – nach Berlin. Eine Stadt, die ihn aufgrund „ihrer Buntheit, ihrer Fülle an alternativen Lebensentwürfen und ihres rasanten Wachstums bei doch stetiger Unfertigkeit“ fasziniert. In der deutschen Metropole war Vigl zunächst als Gastronom tätig. In einem Kreuzberger Szeneviertel betrieb er das Lokal „neue bohnen“, mittags ein Restaurant und abends eine Kneipe. Im Anschluss absolvierte er eine dreijährige Heilpraktiker-Ausbildung mit Schwerpunkt Pflanzenheilkunde.
Als Heilpraktiker widmete er sich zusammen mit seiner Frau der naturheilkundlichen Behandlung von Krebserkrankungen, Erkrankungen der Schilddrüse, allergischen Erkrankungen, Wechseljahresbeschwerden oder von chronischen Schmerzzuständen. Die beiden setzen auf ein breites Angebot an natürlichen Verfahren, die als alleinige Therapie oder begleitend zur Schulmedizin angeboten werden.
Naturheilkundliche Behandlungsweisen lassen sich bis in die frühe menschliche Geschichte zurückverfolgen, z. B. Kräuterheilkunde und Akupunktur. Die heutige Schulmedizin ist letztendlich aus der Naturheilkunde hervorgegangen. Vigl ist Experte in Phytotherapie, das Fachwort für Pflanzenheilkunde. „Das Erfahrungswissen, welche Pflanze wogegen hilft, ist uralt. Wenn vor 3000 Jahren jemand in Griechenland eine fieberhafte Atemwegserkrankung hatte, gab man dagegen unter anderem Meerrettichwurzel“, sagt er. „Heute wird dieselbe Heilpflanze bei Bronchitis als natürliches Antibiotikum zum Beispiel in Form des Präparates Angocin eingesetzt.“ Die Wirkung der meisten Heilpflanzen ist dagegen erst ansatzweise erforscht. Kein Wunder, jede Heilpflanze bildet ein Konglomerat von oft mehr als 50 miteinander verflochtenen Wirksubstanzen, die sich gegenseitig beeinflussen können.
Die BAZ sprach mit ihm über die Chancen und Grenzen natürlicher Heilkunde
BAZ: Sie sind momentan krankheitsbedingt nicht mehr in Ihrer Praxis tätig, widmen sich aber weiterhin beruflich der Naturheilkunde.
Sebastian Vigl: Ja, durch eine seltene Komplikation nach einer harmlosen Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus bin ich seit fünf Jahren pflegebedürftig und bettlägerig. Meine Frau führt unsere gemeinsame Praxis weiter, in der ich nach einer möglichen Genesung meine Arbeit als Heilpraktiker wieder aufnehmen kann. Inzwischen arbeite ich vom Bett aus. Ich kümmere mich um verschiedene Belange der Praxis und schreibe naturheilkundliche Beiträge und – mit meiner Frau als Koautorin – Bücher.
Naturheilkunde findet heute ein großes Interesse. Aber maßen wir ihr nicht zu große Bedeutung zu?
Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Möglichkeiten der Naturheilkunde. Es gibt die unterschiedlichsten Meinungen, die reichen von überoptimistischer Überzeugung bis hin zu vollkommener Leugnung ihres Potentials. Sie wird also meist entweder überschätzt oder unterschätzt. Dazwischen liegt der vernünftige Umgang mit ihr. Dafür müssen wir ihre Möglichkeiten und ihre Grenzen kennen und respektieren lernen. Dies gelingt am besten, wenn man sich ihr vorurteilsfrei nähert und sie nicht als Ganzes beurteilt, sondern ihre Aspekte einzeln prüft.
Was war Ihr Weg zur Naturheilkunde?
Ich hatte das große Glück, dass es für meine Eltern selbstverständlich war, dass die Wochenenden wandernd in der Natur verbracht werden. Während meiner Heilpraktiker-Ausbildung konnte ich diese von ihnen erlernte Begeisterung für die Natur mit meinem Interesse für Heilpflanzen verbinden. Sobald ich einen Tag frei hatte, durchstreifte ich mit Botanikerlupe und Fachbüchern die Naturschutzgebiete rund um Berlin, um die verschiedenen Arzneipflanzen kennenzulernen.
Sie behaupten, wo die Grenzen der Schulmedizin liegen, kann die Naturheilkunde ansetzen. Wie ist das zu verstehen?
Die klassische Schulmedizin kann nicht alles leisten. Sie lässt immer wieder Patienten mit einigen Fragen und bisweilen auch mit einzelnen Beschwerden alleine. Die Naturheilkunde erlaubt einen ganzheitlichen Blick auf den Patienten. Mit ihr kann nicht nur seine Erkrankung, sondern auch sein Gesundungspotential erkannt und gefördert werden.
Ist es nicht fahrlässig, wenn man nur auf alternative Therapien setzt und die Schulmedizin verteufelt?
Ja, eindeutig. Fahrlässig und nicht zu empfehlen. Es gilt genau abzuwägen, wann Naturheilkunde wirklich als Alternative zur Schulmedizin und wann sie als deren Ergänzung eingesetzt werden kann. Naturheilkunde ist eine wertvolle Option, wenn sie verantwortungsbewusst eingesetzt wird. Bei schweren Erkrankungen sollte sie in Absprache mit den behandelnden Ärzten angewandt werden.
In Südtirol ist ein heftiger Streit um die Pflichtimpfung entbrannt. Verstehen Sie die Impfgegner?
Ich kann verstehen, dass sich Menschen ungern bevormunden lassen, wenn es um die eigene Gesundheit und das Wohlergehen der eigenen Kinder geht. Mir erschließt sich auch nicht ganz, warum man Eltern aufgrund einer Masernepidemie zum Beispiel zur Keuchhusten-Impfung drängen muss. Ich befürchte, dass sich durch die Impfpflicht und die Strafandrohungen die Fronten verhärten und Impfskeptiker noch weniger für die Argumente der Wissenschaft zugänglich sind.
Welche Diagnosemethoden gibt es in der Naturheilkunde und wo kann sie besonders gut eingesetzt werden?
Die meisten naturheilkundlichen Diagnosen dienen weniger dem genauen Bestimmen einer Erkrankung. Sie liefern Auskünfte über die individuelle Konstitution des Patienten und somit Hinweise, wie diese im Krankheitsfall berücksichtigt und gestärkt werden kann. Wir nutzen hierfür zum Beispiel die Augen- und die Antlitzdiagnose. Deren Erkenntnisse müssen dann anschließend im Zusammenhang von schulmedizinischen Befunden und individuellen Beschwerden des Patienten gesehen werden.
Wie kann man mit einfachen Mitteln die eigene Gesundheit stärken?
Jetzt in der Erkältungszeit kann man sein Immunsystem stärken, indem man sich ausreichend an der frischen Luft bewegt, auf eine vollwertige Ernährung mit hohem Gemüseanteil achtet und regelmäßig für entspannende Momente sorgt. Wir haben gute Erfahrungen mit der sogenannten „Knoblauch-Zitronen-Schlempe“ gemacht, mit der man Erkältungen vorbeugen und sie auch behandeln kann. Wer über die Suchfunktion unserer Homepage (sebastianvigl.de) nach „Schlempe“ sucht, findet eine Anleitung, wie sie selbst hergestellt werden kann.
In Ihrem Buch „Pflanzliche Antibiotika richtig anwenden” zeigen Sie Alternativen zu chemischen Antibiotika auf. Können Heilpflanzen denn Antibiotika wirklich ersetzen?
Nein. Pflanzliche Antibiotika sind eine wichtige Ressource in der Antibiotika-Krise. Sie sind nur bei wenigen bakteriellen Infektionen eine wichtige Alternative. Dazu zählen zum Beispiel komplikationslos verlaufende Blasenentzündungen. Sie bieten in solchen Fällen entscheidende Vorteile gegenüber den chemischen Antibiotika: Sie werden gut vertragen, sind meist frei von Nebenwirkungen und tragen nicht zur Entstehung von Antibiotikaresistenzen bei.
Inwiefern können Patienten mit Schilddrüsenerkrankungen oder Neurodermitis von einer naturheilkundlichen Therapie profitieren?
Bei einer naturheilkundlichen Therapie können unter anderem körperliche Zusammenhänge berücksichtigt werden, die auf den ersten Blick nichts mit der Grunderkrankung zu tun haben. Bei der Neurodermitis und den entzündlichen Schilddrüsenerkrankungen wäre hier vor allem der Darm und seine Besiedlung zu nennen. Der von der Naturheilkunde schon lange berücksichtigte Einfluss des Darms auf diverse entzündliche Erkrankungen findet heute durch verschiedene Forschungsergebnisse Bestätigung.
Ihr letztes Buch trägt den Titel „Naturheilkunde bei Krebs“. Lässt sich die Krankheit denn mit rein naturheilkundlichen Verfahren behandeln?
Nein, das wäre unsinnig, vor allem wenn wir uns die großen Fortschritte der Schulmedizin bei Krebserkrankungen ansehen. Naturheilkunde kann die Schulmedizin aber sinnvoll ergänzen. Sie liefert gut verträgliche Strategien zur Behandlung von typischen Beschwerden und zur Besserung der Lebensqualität und kann sich positiv auf die Prognose auswirken. Naturheilkunde kann zudem viele verschiedene Aspekte berücksichtigen, die eine Auswirkung auf den Genesungsprozess haben können.
Wie wichtig sind Sport und Bewegung bei einer Krebserkrankung?
Wir wissen heute, dass regelmäßige körperliche Aktivität nicht nur vor Krebserkrankungen schützt. Bei schon bestehender Krebserkrankung kann sie die Überlebensrate positiv beeinflussen. Besonders effektiv ist hierfür Ausdauersport wie Joggen, Fahrradfahren oder Schwimmen. Wichtig ist, dass die körperliche Aktivität dem jeweiligen Stadium der Erkrankung und dem Energielevel angepasst wird.
Und welche Rolle spielt die Ernährung?
Viele Krebspatienten wollen selbst aktiv werden und etwas für ihre Gesundheit tun. Dies gelingt sehr gut über die Ernährung. Diese kann den Krebspatienten nicht nur mit ausreichend Nährstoffen und Energie versorgen, um seine Krankheit zu bewältigen. Sie kann sein Immunsystem, seine Psyche und das Krebswachstum beeinflussen und zu mehr Lebensqualität, einem besseren Körpergefühl und zu einer möglichen Genesung beitragen.
Schützen biologisch erzeugte Lebensmittel besser vor Krebs als konventionell hergestellte?
Wer biologisch erzeugte Lebensmittel bevorzugt, reduziert die Belastung mit Herbiziden, Pestiziden und hormonaktiven Substanzen. Zudem können biologisch erzeugte Gemüse- und Obstsorten einen höheren Gehalt an pflanzlichen Schutzstoffen aufweisen, die bei der Entstehung von Krebserkrankungen eine protektive Rolle spielen. Wer sich mit einer biologischen Ernährung sein Erkrankungsrisiko senken möchte, der sollte diese abwechslungsreich gestalten, viel Obst und Gemüse essen und mehr zu pflanzlichen denn zu tierischen Fetten und Eiweißquellen greifen.
Was halten Sie von Cannabis bei schwerwiegenden chronischen Erkrankungen?
Ich finde es begrüßenswert, dass sich die Medizin wieder auf die Möglichkeiten dieser alten Heilpflanze besinnt. Sie stellt in der Schmerztherapie eine wirksame und in Vergleich zu chemischen Schmerzmitteln gut verträgliche Alternative dar. Zusammen mit meiner Frau schreibe ich gerade an einem neuen Buch, einen medizinischen Cannabis-Ratgeber, der im Herbst 2018 erscheinen soll.
Können Cannabinoide Krebs heilen?
Diese Frage lässt sich heute noch nicht eindeutig beantworten, da aussagekräftige Studien fehlen. Wir wissen, dass Cannabinoide, die Hauptwirkstoffe der Cannabispflanze, das Wachstum von Krebszellen beeinflussen und die Wirksamkeit von Chemotherapeutika bei einzelnen therapieresistenten Krebsformen steigern können. Cannabinoide sind weder die Wundermittel, als die sie bisweilen dargestellt werden, noch völlig unwirksam. Sie werden in der Krebstherapie der Zukunft eine immer größere Rolle spielen.
Auch der Schokolade sprechen Sie heilsame Wirkung zu. Sie sprechen ihr sogar eine Heilkraft zu.
Ja, das trifft vor allem für hochwertige Schokoladen mit einem Kakaoanteil von mindestens 70 Prozent zu. Das Theobromin des Kakaos wirkt belebend und stimmungsaufhellend, seine Flavonole haben einen günstigen Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System. Wer sich intensiver mit den Wirkungen des Kakaos beschäftigen möchte, dem kann ich empfehlen, sich mit Rohkakao zu befassen. Rohkakao wird nicht geröstet und enthält so viele temperaturempfindliche Inhaltsstoffe.
Den Kaffee sehen Sie gar nicht so negativ?
Nein, ein gemäßigter Kaffeekonsum kann uns helfen, geistig und körperlich leistungsbereit zu sein. Sein Genuss hat viele positive Auswirkungen und kann bei manchen Erkrankungen einen schützenden Effekt haben. Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlafstörungen, starker nervöser Unruhe und während der Schwangerschaft würde ich anraten, den Kaffeekonsum mit dem Arzt zu besprechen. Wer Kaffee übrigens nicht mag oder nicht verträgt, kann auf den wohlschmeckenden Mate-Tee ausweichen.
In Ihrem Buch „Die Leber natürlich reinigen“ stellen Sie eine naturheilkundliche Leberkur vor. Warum ist es so wichtig, die Leber zu entgiften?
Unsere Leber muss einiges erdulden. Schadstoffe in Luft, Wasser, Kosmetik und Nahrung, Bewegungsmangel, Überernährung und Stress setzen dem Organ zu. Die von uns entwickelte Leberkur, das sogenannte „Prometheus-Programm“, entlastet die Leber und ist ein Entgiftungsprogramm für den ganzen Körper. Es spricht nicht nur die Leber, sondern auch die anderen Entgiftungsorgane wie Haut, Darm, Lunge und Nieren an.
Was kann man von so einer Leberkur erwarten?
Für unser Buch haben wir einen Test entwickelt, mit dem die Effekte des Prometheus-Programms gemessen werden können. Anhand der Rückmeldungen von unseren Patienten und Lesern des Buches sehen wir, dass die meisten positive Effekte hinsichtlich ihres Energielevels verspüren. Viele fühlen sich verjüngt und voller frischer Energie. Ein weiteres Ziel des Programms ist es, Menschen einen lebergesunden Lebensstil schmackhaft zu machen, der auch nach der Kur beibehalten werden kann.
Zum Schluss, welche Zukunft sehen Sie für die Naturheilkunde im öffentlichen Gesundheitssystem?
Einzelne Disziplinen spielen bereits eine Rolle im öffentlichen Gesundheitssystem. Man denke an die Pflanzenheilkunde und die evidenzbasierte Anwendung von Johanniskraut, Weißdorn, Lavendel oder Cannabis. Ich gehe davon aus, dass naturheilkundliche Verfahren zunehmend in den schulmedizinischen Alltag integriert werden. Schließlich liefert die Naturheilkunde aussichtsreiche, gut verträgliche Ansätze und erfreut sich großen Zuspruchs in der Bevölkerung.
von Josef Prantl