Sie erzählen von Vertreibung, Flucht und Krieg, aber auch von Menschlichkeit und Solidarität: Zeitzeugen machen die Vergangenheit auf eine ganz eigene Art lebendig. Biografische Erzählungen sind beseelte Geschichte, sie öffnen den Blick für Vergangenes, sie zeigen auf, dass es nicht nur eine Sicht der Geschichte gibt.
Adriana Zanellato feiert heuer ihren achtzigsten Geburtstag. Sie lebt in einer kleinen Wohnung in Oberlana. Nur wenige kennen ihre Geschichte. Jetzt wurde sie niedergeschrieben. Bewegende Alltagsgeschichten, dramatische Erlebnisse, Überlebensstrategien und Erinnerungen aus Kriegs- und Nachkriegszeiten von Zeitzeugen, die heute allesamt im Meraner Raum leben, wurden im Laufe von drei Jahren vom Bildungsausschuss Lana in einem Buch festgehalten. „Das Leben geht weiter“, so der bezeichnende Titel, hat zwei Seiten: „Die eine ist eine traurige, ja sogar zynische“, steht im Vorwort des Buches. „Denn es geht weiter ohne Rücksicht auf Verluste, auch wenn Abertausende auf der Strecke bleiben.“ Buchstäblich über Leichen gehe es weiter, ungeachtet der Tränen um Unwiederbringliches. „Aber es gibt auch einen tröstlichen Aspekt: Mit Lebenswillen, Fleiß und Kreativität hat es der Mensch immer wieder geschafft, auf Zerstörtem Neues aufzubauen, und zu allen Zeiten hat es Hilfsbereitschaft und Solidarität gegeben.“
EIN SCHATZ VOLLER ERINNERUNGEN
Davon zeugen die 50 Erinnerungen, die Waltraud Holzner gemeinsam mit Urban Perkmann und Mitgliedern vom Bildungsausschuss Lana zum Nachlesen niedergeschrieben hat. Oral History, also Erinnerungen von Zeitzeugen, bereichern die Geschichtswissenschaft. Zeitzeugen bieten einen persönlichen, emotionaleren Zugang zu geschichtlichen Ereignissen. „Sie beseelen die Geschichte“, meint Holzner, die selbst eine bewegende Vergangenheit hinter sich hat. Dem Vorwurf, dass vieles weder belegt noch nachgewiesen werden könne, setzt sie entgegen, dass die emotionsfreien Fakten der Geschichtsschreibung kaum Befindlichkeiten und Alltagsbewältigung der Menschen einer bestimmten Epoche vermitteln können. „Der historische Wahrheitsgehalt der Erzählungen ergibt sich aus den übereinstimmenden Aussagen mehrerer voneinander unabhängigen Personen, ähnlich den Zeugenaussagen in der juristischen Wahrheitsfindung“, erklärt Holzner.
VOR AUSCHWITZ GERETTET
Dass Adriana Zanellato heute noch lebt, hat sie ihren Südtiroler Zieheltern zu verdanken. Die Mutter, Margarethe Kornblum, stammte aus einer angesehenen jüdischen Familie in Schlesien. Der Vater, Italiener, war Generalvertreter der Fiat-Werke in Malaysia, wo das Paar vorerst lebte. Da die Mutter das tropische Klima nicht vertrug, kehrten die Eltern nach Europa zurück und landeten durch Vermittlung von Freunden am Ritten, wo der Vater ein Haus baute. 1936 kam Adriana dort zur Welt, verlor drei Jahre später aber ihre Mutter. Ilse, die Schwester der Mutter, übernahm die Rolle der Ziehmutter. Sie lebte 1939 noch in Berlin, fühlte sich in Nazideutschland aber nicht mehr sicher und zog kurz entschlossen mit ihrer Tochter Ruth nach Oberbozen. Das Schicksal meinte es aber nicht gut. 1940 fiel der Vater als Offizier im Abessinienkrieg. Nun war Adriana mit vier Jahren Vollwaise. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Als 1943 die Deutschen einmarschierten und Südtirol unter die Herrschaft des Hakenkreuzes geriet, wurde die Lage auch hier für die Juden gefährlich. Am 22. September wurden Adriana, ihre Tante Ilse und ihre Kusine Ruth von der Gestapo abgeholt und in die Zentrale, welche sich im Hotel Mondschein in Bozen befand, gebracht. Es war eine befreundete Familie vom Ritten, die Adriana das Leben rettete und sie als Halbjüdin bei sich aufnahm. Tante Ilse und Ruth kamen allerdings in Auschwitz ums Leben.
„Viele ältere Menschen haben Interessantes zu erzählen, haben Erinnerungen an dramatische Erlebnisse“, sagt Waltraud Holzner. „Das Bedürfnis, darüber zu sprechen, ist groß“, weiß die gebürtige Wienerin, die 1960 durch Zufall – man kann es auch Schicksal nennen – nach Lana gekommen ist und im Jahr der großen Überschwemmungen ihren späteren Mann, den Agrarexperten Wilhelm Holzner, kennen lernte. „Geschichtsbücher stellen die Vergangenheit unbeseelt dar, die Erzählungen der Menschen haben Seele, die Vergangenheit wird wieder lebendig, solche Erzählungssammlungen sind ein ‚Erinnerungsmuseum‘ “, sagt Holzner. Die subjektiven Sichtweisen sind eine anschauliche, fassbare Ergänzung zu wissenschaftlich aufgezeichneten Fakten und Forschungsergebnissen und gerade für junge Menschen wichtig. Geschichte werde für sie greifbar, nachvollziehbar, anschaulich, weiß Holzner.
VON MUSSOLINI EMPFANGEN
Da ist zum Beispiel die Erinnerung von Kathi Pircher (Jahrgang 1925) mit dem Titel „Mussolini überreichte einen Scheck“: Der Duce lud jedes Jahr die kinderreichsten Ehepaare einer Provinz nach Rom ein. Kathi Pircher war mit ihrer Zwillingsschwester das erste von insgesamt zwölf Kindern der Familie Pircher aus Dorf Tirol. Und so wurden sie allesamt nach Rom eingeladen, und Mussolini überreichte ihnen persönlich einen Scheck von über 4000 Lire. „Das war damals ein Vermögen, denn eine Kuh kostete 700 bis 800 Lire“, erinnert sich Kathi. Anekdotenhaft ist die Erinnerung von Hermann Prinoth aus Völlan.
Das Jahr 1939 war ein ganz besonderes Jahr: Es gab nämlich kein Gewitter. Warum das so genau in Erinnerung geblieben ist? Ganz einfach: Mussolini hatte nämlich den Gemeinden, denen im Ersten Weltkrieg die Glocken zum Einschmelzen genommen worden waren, eine neue Glocke geschenkt. Der Helmsdorfer freute sich schon darauf, bei Gewitter das neue Glöckl läuten zu können, aber er musste sich ein ganzes Jahr gedulden. Die Dramatik der Option von 1939 spiegelt sich in der Erinnerung von Greti Telser wider. „Lassen wir alle ziehen, und wenn der Letzte geht, gehen wir auch“, sagte der Großvater zum Vater.
Greti Telser aus Lana hat die Episode nie mehr vergessen. Dass es dann doch nicht zur Auswanderung der Telser wie vieler Südtiroler Familien gekommen ist, brachte die politische Entwicklung mit sich.
DIE SEITEN DES LEBENS
Zeitzeugen ermöglichen uns heute, die bedrückende Atmosphäre der damaligen Zeit zu erahnen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es für die Menschen aus den italienischsprachigen Gebieten, die vom Faschismus nach Südtirol „importiert“ wurden, ebenso schwer war. Dazu gehört Adele Calzolari Zamai, die bis zu ihrem Tod 2007 in Burgstall lebte. 1929 wurde die junge Absolventin der Lehrerbildungsanstalt aus Bologna in die ihr bis dahin völlig unbekannte Provinz „Alto Adige“ versetzt. Und zwar nach Lappach im hintersten Ahrntal auf 1500 Metern. Ohne jegliche Deutschkenntnisse und ohne eine Menschenseele dort zu kennen, wurde die erste Zeit für die schüchterne junge Frau zu einem Alptraum. Zum Glück änderte sich dies später und Adele fand 1938 in Burgstall ihr Lebensglück.
„Dieses Beispiel erlebter Geschichte lässt einen Blick unserer Vergangenheit aus der Perspektive der italienischen Sprachgruppe zu“, sagt Holzner.
„Bei weitem nicht alle, die zu uns kamen, waren vom faschistischen Unterdrückungsgeist beseelt.“
FLUCHT UND VERTREIBUNG
Und so kommen im „Erinnerungsbuch“ des Lananer Bildungsausschusses auch Stimmen zur Sprache, die von weiter herkommen und durch die die jüngste Vergangenheit lebendig wird. Etwa aus dem zerfallenden Jugoslawien, das in den 1990er Jahren grausame Kriege erlebte. Da ist die Geschichte von Leila D. aus Bosnien, die heute in Lana lebt. Sie erzählt von der lebensgefährlichen Flucht aus der Heimat im Jahr 1992, als der Krieg in Bosnien ausbrach.
Oder Audin D. aus Tuzla, der nur knapp dem Tod entronnen ist. Er war auf einer Geschäftsreise, als er aus heiterem Himmel in Novisad von „Tschetnics“ (eine paramilitärische Einheit unter serbischer Führung) festgenommen wurde. Die ersten Massaker an bosnischen Männern waren bereits bekannt; auch Audin hatte mit seiner Erschießung zu rechnen, wurde im letzten Moment aber gerettet und konnte nach Ungarn fliehen. Die Rückkehr in seine Heimatstadt Tuzla, die von bosnischen Serben eingekesselt war, gestaltete sich zwischen kroatischen und serbischen Fronten als lebensgefährlich. Zwei Jahre später floh Audin nach Deutschland, wo er seine spätere Frau kennen lernte. Seit 2003 lebt die Familie in Lana.
NIE WIEDER KRIEG!
Eines eint alle Zeitzeugen: die Hoffnung auf nie mehr Krieg. Die jüngsten Ereignisse haben zu gewaltigen Fluchtbewegungen geführt. Europa wird mit von Krieg, Terror, Hunger und Not bedrohten Menschen aus aller Welt konfrontiert. Diese neue Herausforderung zu meistern, ist eine gewaltige Aufgabe. Aber „der ungerechteste Frieden ist immer noch besser als der gerechteste Krieg“, zitiert der Bildungsausschuss am Ende seines „Erinnerungsbuches“ den römischen Schriftsteller Cicero, verbunden mit dem Wunsch, dass wir uns dies in einer immer komplexeren Welt zu Herzen nehmen.
von Josef Prantl