Sie stand gerade vor ihrem Haus hoch über der Schneebergbrücke, der Straße, die von Moos aufs Timmelsjoch führt, als ich ihr zum ersten Mal begegnete. Ich schätzte sie auf 80 Jahre, doch lächelnd meinte sie: „Ich werde im Oktober 100!“
Nun sitzen wir in der blitzsauberen, gemütlichen Küche, denn in Theresia Kofler lebt ein langes Stück interessanter Lebens- und Bergwerksgeschichte, und dann beginnt das Erzählen. Als siebtes von 10 Kindern ist sie am Rieblhof in Rabenstein im Passeiertal geboren. Dass zwei ihrer Geschwister noch im zarten Alter starben, war damals nichts Außergewöhnliches. Es war eben so. Armut war selbstverständlich, aber auch Zufriedenheit. In einem Dorf, wo man in jedem Winter die Lawinen fürchten musste, die Tod und Verderben brachten, lernte man früh beten und vertrauen.
Junge Liebe und Eheglück
Luis, dem jungen, schneidigen Arbeiter, der seit 1937 als Schmied im Bergwerksdorf am Schneeberg arbeitete, gefiel die Tres, und umgekehrt war es ebenso. So heiratete sie im Kriegsjahr 1944 mit 25 Jahren ihren Luis. Dies bedeutete für die junge Frau jedoch, mit ihrem frisch angetrauten Mann hinaufzuziehen auf 2355 m, ins Knappendorf auf dem Schneeberg. „Das war eine schöne Zeit!“, so schwärmt sie heute noch, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Da hatten wir es gut, wir bekamen jeden Tag frische Lebensmittel mit der Materialseilbahn von Maiern in Ridnaun!“ 1945 kam Martha, die Älteste zur Welt. Vier ihrer insgesamt sieben Kinder sind am Schneeberg geboren.
Geburten am Schneeberg
Ja, die Hebamme kam jedes Mal von Saltnuss, dem winzigen Weiler unter der Schneebergbrücke zu ihr, wenn es wieder einmal so weit war, erzählt die Tres, und die Dankbarkeit, dass immer alles gut gegangen ist und es keine Komplikationen gab, steht ihr heute noch ins Gesicht geschrieben. Wie damals üblich, wurden die Neugeborenen so schnell als möglich getauft, und so mussten sie allesamt mit Decken eingewickelt den steilen Fußweg von 2355 m gut 2 1/2 Stunden nach Rabenstein (1419 m) in die Kirche gebracht werden. Die Ältesten gingen noch am Schneeberg zur Schule, die ihren ganz eigenen Rhythmus hatte. Ein tschechischer Kooperator Franz Staud war damals in Ridnaun und kam dann auf den Schneeberg, um die Kinder zu unterrichten. Dass sie dann, als sie später in Rabenstein zur Schule gingen, viel besser Italienisch konnten als die Dorfkinder, verdankten sie den vielen italienischen Knappen.
Wie die Maulwürfe
Von den langen Wintern erzählt sie, wo bis über die Dächer alles zugeschneit war, und dass vom Martinsstollen unterirdische Zugänge zu fast allen Gebäuden am Schneeberg führten, so, dass man gar nicht hinausmusste, was man ja auch nicht konnte, waren doch Türen und Fenster zugeschneit. Umso mehr wusste Tres dann das beginnende Frühjahr und die kurzen Sommer zu genießen, wo die Luft schwanger war vom Duft der vielen Bergkräuter. Nein, am Schneeberg fehlte es ihnen an nichts! Die Räume waren beheizt. Es gab dort oben ein Kirchlein zum Feiern und eine Schule, Kino, Gasthaus, Einkaufsladen, Musikkapelle und Schützenverein. Das allererste Kino und Fernseh hat sie am Schneeberg erlebt. So waren auch die langen Winter gut auszuhalten.
Ein gutes Miteinander
Die meisten der Knappen nach dem 1. Weltkrieg stammten aus Mittel- und Süditalien, doch so hoch oben, am und im Berg herrschten andere Gesetze. Nichts spürte man von Gehässigkeit oder Rivalität, dort hieß es einfach zusammenzuhalten, um zu überleben. Denn mehr Tote forderten Lawinen als Unglücke in den Stollen. Tres sah so manche Männer aufgebahrt in der Totenkapelle, die im Krankenhaus untergebracht war. Unter Südtirolern und Italienern gab es eine sehr gute Gemeinschaft. Das zeigte sich auch, als Luis und Tres darangingen, sich ein eigenes Heim zu schaffen. Die italienischen Knappen, die in der Nachtschicht arbeiteten, halfen zum Teil tagsüber beim Zusammentragen der für den Hausbau nötigen Steine. Das war 1950/51, aber noch weitere Jahre sollte die Tres am Schneeberg bleiben, ehe sie ihn nach insgesamt 10 Jahren, 1954 endgültig verließ.
Abschied vom Schneeberg
Der Tres und dem Luis wurden dann noch drei weitere Kinder geschenkt, Waltraud, die Jüngste kam 1962 zur Welt. Nun musste täglich ein Schulweg von 1 ½ Stunden gemacht werden, und die Kinder sehnten sich fast hinauf auf den Berg, wo sie nicht einmal in die Kälte hinausmussten. Luis arbeitete noch jahrelang als Bergwerksschmied, und als es 1967 auf dem Schneeberg einen großen Brand gab, der die Unterkunft der Arbeiter zerstörte, blieb er noch weitere drei Jahre als Aufseher oben. Dann endlich ging er nach insgesamt 40 Dienstjahren, davon 33 Jahre am Schneeberg in Pension. „So lange wie er hat höchstwahrscheinlich niemand ausgehalten“, meinte Tres. Im Alter von nur 64 Jahren verstarb er 1979. Als dann die Kinder, eines nach dem andern, fortzogen und wegheirateten, blieb Tres noch lange in ihrem „Hoamatl“. Erst in den letzten Jahren verbrachte sie die langen Winter bei ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester und nachdem diese ins Altersheim gezogen war, abwechselnd bei ihren Kindern.
Ein erfülltes Leben
Aber im Sommer zieht es sie immer noch hinauf ins Haus ober der Schneebergbrücke. Da pflegt sie mit viel Liebe ihre Blumenpracht, da werkelt sie im Haus und im kleinen Gemüsegarten und gießt treu den Blumenschmuck gemeinsam mit Tochter Martha am großen Kreuz (Feuerkofl), das auf dem Weg zum Schneeberg steht. Als sie 70 wurde, ging es ihr zu Ehren mit dem Hubschrauber (ein naher Verwandter ist Hubschrauberpilot) zum Becherhaus (3195 m). Aber von dort stieg sie noch „wie eine Gams“ auf den Wilden Freiger bis zum Vorgipfel (3392 m) und zu Fuß zurück über den Übertalferner zur Timmelsbrücke. Einmal im Jahr verbringt sie einen Tag auf „ihrem Berg“. Noch mit 98 Jahren ging sie den mehr als zweistündigen Fußweg hinauf und hinunter. Letztes Jahr flog sie mit dem Hubschrauber hoch, der alle 14 Tage die nötigen Lebensmittel ins Schutzhaus bringt. Nach dem obligatorischen Kartenspiel gings dann wieder zu Fuß Richtung Heimweg. So schließt sich die BAZ der großen Gratulantenschar an, die sie am 13. Oktober hochleben lassen.
von Christl Fink