Manuel ist 10 Jahre alt und besucht die 1. Klasse Mittelschule. Mit dreieinhalb Jahren konnte er bereits lesen. Im Kindergarten hat er Gleichaltrigen aus Büchern vorgelesen. Ein komplexes Puzzle zusammenzustellen, schaffte er mühelos. Manche Kinder lernen rasend schnell. Diese klugen Köpfe brauchen die richtige Förderung – und ihre Eltern oft gute Nerven.
Für sie ist es meist keine einfache Aufgabe, ihren Kindern mit besonderen Talenten und Fähigkeiten gerecht zu werden. Noch schwieriger ist es für die pädagogischen Fachkräfte in Kindergarten und Schule. „Hoch begabte Kinder und Jugendliche sind Kinder und Jugendliche wie alle anderen auch – nur eben mit einem besonders großen Entwicklungspotenzial. Die erfolgreiche Entfaltung dieses Potenzials hängt entscheidend von der Unterstützung durch die Umwelt, insbesondere durch nahestehende Personen, ab. Passt die Umwelt zu den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Entwicklung, kann diese optimal verlaufen“, sagt Siglinde Doblander, die seit 13 Jahren für die Begabungs- und Begabtenförderung in Südtirol zuständig ist.
Segen oder Fluch?
„Mein Sohn besaß sehr früh eine große Sprachfertigkeit, er konnte Dinge, die eigentlich erst viel später erlernt werden“, sagt die Oberschullehrerin Magdalena Gamper. „Aber wie soll man wissen, ob das normal ist oder nicht?“ Im Kindergarten fühlte sich Manuel unterfordert, ihm war häufig langweilig. Erst spät bekam er spezielle Aufgaben, eine Zeit lang ging es gut. In der Grundschule waren die Lehrkräfte überfordert, Manuel fiel immer wieder auf. „Vorschnell wurde auf Asperger-Autismus oder ADHS getippt, ohne jegliche Grundlage“, erinnert sich die Mutter. Tatsache war, dass Manuel besser abschnitt als die Gleichaltrigen. Trotzdem wurde der Junge zum Problemfall, galt als Außenseiter, fühlte sich gelangweilt und nicht ernst genommen. „Die Folgen waren innerliche Kündigung, Verweigerung, für uns Eltern schwere Zeiten“, erinnert sich Gamper. „In so gut wie jedem Kindergarten, jeder Grundschule und jeder Ober- oder Berufsschule gibt es außergewöhnlich begabte Schüler“, weiß Doblander. Bei manchen hoch begabten Kindern oder Jugendlichen erkennt man ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten früh, weil sie über Jahre hinweg zu den Besten in ihrer Klasse zählen, durch spezielle Kenntnisse, Fähigkeiten oder Leistungen auffallen oder eine Klasse überspringen. Bei anderen Kindern und Jugendlichen wird die besondere Begabung während ihrer ganzen Schulzeit oder auch später nicht erkannt.
Reizwort „Hochbegabung“
Hochbegabung ist ein Reizwort, dem kaum jemand neutral gegenübersteht. Viele Eltern hochbegabter Kinder erleben, dass ihnen elitäres Verhalten unterstellt wird. Angeblich halten sie sich und ihre Kinder für etwas Besseres. Die Bildungsforscher meiden auch den Begriff „hochbegabt“ und sprechen stattdessen lieber von Motivation oder Talenten. Maximal zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gehören Studien zufolge zu den Hochintelligenten; jenen Menschen also, die besondere kognitive Begabungen haben und in Intelligenztests auf IQ-Werte jenseits der 130 kommen, so die geläufige Definition. Bei ihnen treffen besondere Anlagen auf ein förderliches Umfeld, sodass sich ihre kognitiven Fähigkeiten entfalten können.
Die „klugen Köpfe“ fordern nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Umfeld. Welche Förderung allerdings die richtige ist, ist immer eine individuell zu treffende Entscheidung, sind sich die Experten einig. Es sind übrigens auch nicht nur Jungen, die hochbegabt sind, sie fallen nur häufiger auf.
„Uns Eltern den Rücken stärken“
Hochbegabung ist Fluch und Segen zugleich. Die Lananerin Magdalena Gamper und ihr Mann Massimo Daves schildern im BAZ-Gespräch ihre Erfahrungen mit einem Thema, das in der Öffentlichkeit recht wenig Beachtung findet.
BAZ: Wie erleben Sie als Eltern eines besonders talentierten Kindes Ihr Umfeld?
Magdalena Gamper/Massimo Daves: Wir haben viele negative Erfahrungen gemacht, vor allem als unser Sohn eingeschult wurde. Unsere Gesellschaft hat oft ein falsches Bild von sehr begabten Kindern. Man glaubt, sie müssten in unserem Bildungssystem „funktionieren“, weil sie keine Lernschwierigkeiten haben. Aber dass sie genauso individuelle Bedürfnisse haben wie Kinder, die Lernstörungen aufweisen, will kaum einer wahrhaben. Erzieher und Lehrpersonen sind auf diesem Gebiet noch viel zu wenig sensibilisiert. Oft wird man als Eltern belächelt, teilweise auch angefeindet, als ob man sein Kind elitär erziehen wollte. Es gibt aber auch viele Neider. Oft wurde Manuel in der Schule gemobbt und man versuchte sein Selbstbewusstsein zu mindern.
Wie haben Sie erkannt, dass Ihr Kind besonders begabt ist?
Manuel beschäftigte sich schon sehr früh, mit ca. zweieinhalb Jahren mit Vorschulbüchern, die normalerweise für Fünfjährige gedacht wären. Mit Dreieinhalb erkannten wir, dass er lesen konnte und im Kindergarten las er den anderen in der Leseecke die Kinderbücher vor. Außerdem hatte er einen für sein Alter überdurchschnittlich großen Wortschatz, sowohl in Deutsch als auch in Italienisch, da er zweisprachig aufwächst. Zudem hat er eine sehr schnelle Auffassungsgabe, unendlichen Wissensdurst, und bei Känguru-Wettbewerben schnitt er stets sehr gut ab.
Wie veränderte sich dadurch Ihr Familienleben?
Als Manuel in Kindergarten und Schule unterfordert war, erkannten wir sehr bald, dass mit unserem Kind eine Veränderung vor sich ging. Er war unzufrieden und gereizt, als er aus dem Kindergarten bzw. von der Schule nach Hause kam. Vor allem sträubte er sich dorthin zu gehen. Jeden Morgen mussten wir ihn überreden, in die Schule zu gehen. Vor allem die Schule wurde für uns Eltern eine zunehmende Herausforderung, bei der wir oft an unsere Grenzen kamen. Das Schlimmste war, dass wir uns als Eltern nicht ernst genommen fühlten. Diese negativen Erfahrungen begleiteten damals unseren Alltag.
Wie waren Ihre Erfahrungen in Kindergarten und Schule? Welche Schwierigkeiten traten auf?
Wie schon vorher erwähnt, hat unser Sohn in Kindergarten und Schule viele negative Erfahrungen gemacht. Ich glaube, das ist darauf zurückzuführen, dass unsere Gesellschaft noch viel zu wenig für Begabtenförderung sensibilisiert ist. Viele sehr begabte Kinder bleiben „unerkannt“ und werden als Unruhestifter oder als „krank“ abgestempelt. Die Erzieherin des letzten Kindergartenjahres war aber eine sehr fähige Fachkraft und sie hat sich, als sie Manuels Begabungen erkannt hatte, an Siglinde Doblander, die Verantwortliche der Arbeitsgruppe für Begabtenförderung, und mit dem Direktor der Grundschule in Verbindung gesetzt. Leider war aber trotz allem der Übertritt in die Grundschule eine sehr negative Erfahrung für uns alle, da Manuels Begabungen nicht bzw. nur teilweise anerkannt wurden. Man empfahl uns den Übertritt in die zweite Klasse. Nach langem Zweifeln und Überlegen gaben wir unser Einverständnis, und so saß Manuel nach Weihnachten in der zweiten Klasse. Wir hatten uns der Illusion hingegeben, dass sich die Situation bessern würde. Doch nun standen Mobbing und Ausgrenzung an der Tagesordnung. Wir standen nun auch Anfeindungen anderer Eltern gegenüber. Erst in den letzten zwei Grundschuljahren, als ein fast vollständiger Lehrerwechsel stattfand, bekam Manuel mehr Anerkennung, und er wurde mehr geschützt.
Wie geht es Ihrem Kind heute?
Nun ist Manuel in der Mittelschule und er fühlt sich bis jetzt sehr wohl. Er hat in seiner Klasse neue Freunde gefunden und kommt ausgeglichen nach Hause.
Was würden Sie rückblickend anders machen?
Mit der heutigen Erfahrung würde ich viel selbstsicherer auftreten, würde die Rechte meines Kindes mehr einfordern. Ich würde mir verstärkt Expertenhilfe von außen holen und eventuell bei weiter bestehenden Schwierigkeiten mich für einen Schulwechsel entscheiden. Vorher müsste die neue Schule die Möglichkeiten der Begabtenförderung zeigen. Ich würde auch anderen Eltern verstärkt von Manuels Begabungen erzählen. Oft haben wir zu Beginn Manuels Fähigkeiten eher nicht preisgegeben, um nicht als angeberisch abgestempelt zu werden. Vielleicht war aber gerade das der falsche Weg.
Was muss sich in Kindergarten, Schule und Gesellschaft ändern?
Unsere Gesellschaft muss mehr für die Begabtenförderung sensibilisiert werden. Vielfach werden Wettbewerbe als Aushängeschild für Begabtenförderung hergenommen, aber Begabungsförderung kann und darf nicht dort aufhören. Sie muss in den Alltag der Schule einziehen. Dafür müsste aber auch das Schulsystem angepasst werden. Das heißt, es müsste viel mehr individuelle Förderung stattfinden, z. B. sollte man Altersstufen übergreifende Kurse anbieten. In Deutschland gibt es bereits derartige erprobte Modelle. So würden besondere Begabungen zum Alltag der Schule gehören und keine Besonderheit mehr darstellen.
Was empfehlen Sie Eltern, die in einer ähnlichen Situation sind?
Betroffene Eltern sollten selbstbewusst und entschlossen auftreten und sich über Fördermöglichkeiten an der Schule informieren. Falls es hartnäckige Schwierigkeiten gibt, würde ich einen Schulwechsel empfehlen. Wichtig ist auch der Austausch mit Eltern anderer begabter Kinder. Sie haben oft ähnliche Erfahrungen gemacht. Wir haben unser Kind in verschiedene Kurse in Sport und Musik eingeschrieben. Dadurch kommt Manuel mit vielen Kindern in Kontakt und kann hier seine Fähigkeiten entfalten, ohne dass seine Persönlichkeit unterdrückt wird.
„Besonders begabte Kinder brauchen keine andere Schule, sondern Verständnis und Förderung“
Wie sieht es mit der Begabtenförderung in Südtirol aus? Wie weit gelingt es den Schulen, besonders talentierte Kinder zu fördern? Siglinde Doblander koordiniert seit 13 Jahren im Auftrag der Deutschen Bildungsdirektion die Begabungs- und Begabtenförderung hierzulande. Die BAZ sprach mit der Expertin.
BAZ: Gibt es Daten über hochbegabte Kinder und Jugendliche in Südtirol?
Siglinde Doblander: Was heißt hochbegabt und wie will man das messen? Sind Menschen dafür nicht zu unterschiedlich und spielen nicht zu viele Faktoren in den Begriff Intelligenz hinein? Jeder Intelligenztest prüft letztlich nur einen bestimmten Ausschnitt dessen, was Intelligenz ausmacht. Rein statistisch sind 2 Prozent der Bevölkerung hochbegabt. Aber es geht nicht darum, zu testen, wie viele hochbegabte Schülerinnen und Schüler wir in den Kindergärten und Klassen sitzen haben, sondern es geht darum, diese Kinder, Schülerinnen und Schüler mit besonderen Fähigkeiten und Talenten so gut wie möglich zu unterstützen, dass sie sich weiter entwickeln können. Ein Intelligenztest ermittelt nur einen Aspekt von Begabung. Die inklusive Schule, der wir uns verpflichtet haben, zielt auf eine breite Begabungsförderung für alle.
Die meisten Leute denken bei Hochbegabten an den Vierjährigen, der am Klavier sitzt. Aber was bedeutet hochbegabt eigentlich?
Es gibt verschiedene Hochbegabungsmodelle. Bei intelligenzbasierten Modellen wird, wie der Name schon sagt, Hochbegabung mit stark überdurchschnittlicher Intelligenz gleichgesetzt. Bei den meisten Intelligenztests wird als Kriterium ein IQ von mindestens 130 angesetzt. Das ist aber rein statistisch begründet und bedeutet nicht, dass man ab dieser Schwelle zu einer anderen Person wird. In anderen Modellen wird Hochbegabung hingegen mit hohen Leistungen, also bereits entwickeltem Potenzial, identifiziert. Außerdem beschränkt sich nicht jedes Hochbegabungsmodell allein auf kognitive Fähigkeiten. Wir verwenden den Begriff der Hochbegabung aber nicht gern. Wir sprechen lieber von überdurchschnittlichem Potenzial bzw. weit überdurchschnittlichem Potenzial.
Ist Begabung angeboren?
Die Grundlagen für Begabungen sind von Natur aus gegeben und zeigen sich in vielen Bereichen – auf intellektuellem ebenso wie in kreativem, sozialem oder sportlichem Terrain. Trotzdem hängt es von zahlreichen Bedingungen ab, ob sich diese Begabungen auch in konkreten Leistungen niederschlagen. Dazu braucht es starke persönliche Motivation, Einsatz und Bemühen, Herausforderungen, denen man sich stellt.
Welche Anzeichen deuten auf eine Hochbegabung hin?
Gute Schüler geben die richtigen Antworten – begabte Schüler stellen die richtigen Fragen, ist eine Beobachtung, der viele Lehrer zustimmen würden. Begabte Kinder fallen vor allem durch ihre Lernfähigkeit auf, dass sie Dinge schnell erfassen, sehr schnell den Durchblick haben, fähig sind, zu hinterfragen und zu vernetzen. Begabte Kinder zeigen ein hohes Maß an Kreativität, eigene Wege zu denken und Problemstellungen auf eine persönliche Art und Weise anzugehen. In ihrer Entwicklung sind sie in einem oder auch mehreren Bereichen den Gleichaltrigen voraus. Ein Klischee ist es, der Begabte sei ein Alleskönner und nur männlich. Sie sind – abgesehen von ihren kognitiven Fähigkeiten – ziemlich unauffällig, auch wenn viele Menschen Hochbegabung mit sozialen und emotionalen Problemen assoziieren. Begabung benötigt daher immer eine anregende und angemessen fordernde Umgebung, um sich zu entfalten.
Warum benötigen Kinder mit besonderen Talenten und Fähigkeiten Unterstützung?
Ob ein Mensch besondere Fähigkeiten entwickelt, hängt neben genetischen Faktoren auch von seiner Umwelt ab. Gene und Umwelt interagieren: Begabung benötigt daher immer eine anregende und angemessen fordernde Umgebung, um sich zu entfalten. Jeder Mensch verfügt über ein gewisses Entwicklungsspektrum. Ob er sich eher zum oberen oder unteren Ende entwickelt, hängt besonders in jungen Jahren auch von der Umwelt ab.
Was würden Sie Eltern oder Lehrpersonen raten, die einen Verdacht haben?
Wichtig ist, dass man sich nicht einem Kalenderdogma unterordnet in der Entwicklung eines Kindes. Eltern sollten die Leidenschaften der Kinder wahrnehmen und unterstützen. In der Lerngruppe im Kindergarten oder in der Schule sollten diese Kinder zeigen können, was sie bereits können. Die Angebote sind so zu gestalten, dass diese Kinder ihr Potential entfalten und Ergebnisse zeigen können.
Einige Eltern beklagen, dass die Förderung stiefmütterlich behandelt wird. Stimmt das?
Verallgemeinerungen treffen die Sache nicht. Überall dort, wo den Kindern die Möglichkeit zum selbsttätigen Arbeiten gegeben wird, wo sie im schulischen Kontext ihren Eigenanteil leisten können, wird Entwicklung ermöglicht. Es gibt viele tolle Schulprojekte und das sehr gute Abschneiden unserer Schülerinnen und Schüler bei den nationalen und internationalen Olympiaden und Wettbewerben spricht für sich. Zur Sommerakademie „Knack die Nuss“ melden sich jedes Jahr 400 Kinder und Jugendliche aus dem ganzen Land. Allerdings stimmt es auch, dass unser inklusives Modell sehr stark auf die Unterstützung der Schwächeren fokussiert ist. Unsere Schulklassen werden immer heterogener, Lehrpersonen sind immer stärker gefordert, wenn es darum geht, die Schwächeren aufzufangen. Deshalb steht die Begabungsförderung nicht so im Blickfeld des Unterrichts. Inklusion bedeutet aber auch, an beiden Enden der Begabungsskala anzusetzen und sowohl Weniger- als auch Hochbegabten Förderung zukommen zu lassen.
Wie sieht die ideale Förderung aus?
Begabungs- und Begabtenförderung bedeutet nicht das Aufgeben traditioneller Unterrichtsformen, sondern eine Bereicherung in den Angeboten, Inhalten und Methoden. Begabungsförderung zeigt sich in einem Unterricht, der sich durch Methodenvielfalt und Differenzierung auszeichnet mit selbstgesteuertem und kooperativem Lernen. Begabte Schülerinnen und Schüler brauchen authentische Bezugspersonen, die es ihnen ermöglichen, sich in der Lerngruppe zu entfalten.
Sie brauchen aber auch einen kompetenten Fachunterricht und vor allem darf ihnen nicht die Motivation genommen werden. Sie brauchen Lehrpersonen, die über ihre Fachkompetenz hinaus sie so bestärken, dass sie ihren Weg finden, ein sinnerfülltes Leben zu führen und lernen, sinnstiftend ihre Talente und Begabungen für die Gesellschaft einzubringen. Emotionalen Halt zu geben ist also mindestens genauso wichtig wie geistige Anregungen zu bieten.
von Josef Prantl