Es ist kein Alptraum, aus dem wir jeden Morgen erwachen. Seuchen, Tsunami, Erdbeben, Atomkatastrophe, Dürre oder Flut – das waren doch immer nur die anderen. Plötzlich taucht aus heiterem Himmel bei uns ein Virus auf und nichts ist mehr, wie es einmal war. Wir waren uns schon fast sicher, die erste Generation in der Geschichte der Menschheit zu sein, die von Krieg und großen Schicksalsschlägen verschont bliebe. Und jetzt das! Es ist nicht einmal vier Monate her, dass erstmals Meldungen über ein neuartiges Virus auftauchten: Am 30. Dezember hatte der chinesische Arzt Li Wenliang (der ein paar Wochen später eines der ersten Todesopfer der Infektion wurde) seine Kollegen in einer Chat-Gruppe über eine ungewöhnliche Häufung von Lungenentzündungen in der Millionenstadt Wuhan informiert.
Coronavirus SARS-CoV-2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2, Schweres akutes Atemwegssyndrom Coronavirus 2“) ist der offizielle Name des Virus. Bereits Mitte November 2019 steckte sich in Wuhan der erste Patient damit an. Am 28. Jänner wurden die ersten zwei Fälle in Italien bekannt. Am 30. Jänner rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die internationale Gesundheitsnotlage aus. Seit 5. März sind alle Schulen bei uns geschlossen, seit 10. März ist ganz Italien Sperrzone und einen Tag später erklärte die WHO die bisherige Epidemie offiziell zu einer Pandemie. So schnell also kann es gehen, dass nichts mehr ist wie vorher. Fast die ganze Welt verordnet sich mittlerweile Isolation. Metropolen gleichen plötzlich Geisterstädten. An den Börsen lösen sich Billionenwerte auf, Konzerne und ganze Volkswirtschaften rutschen ins Bodenlose. Wie eine Neutronenbombe ist das Virus über die Welt gekommen. Die Globalisierung, die Abhängigkeit von China, unsere Reisegier, der chronische Konsum, das ganze Schneller-Höher-Weiter-Mehr, die Sorglosigkeit im Umgang mit der Natur prallen seitdem wie ein Bumerang über unsere Köpfe.
Corona deckt die Sünden der Vergangenheit auf
Bedurfte es eines Virus, um eine verdammte Anklage gegen unsere gesamte Gesellschaftsordnung öffentlich zu machen? Etwa, dass Millionen von Menschen in unserer reichen westlichen Welt einen Gehaltsscheck entfernt von extremer Not leben! Wie erklären sich sonst die Lebensmittelgutscheine, welche die Gemeinden in den nächsten Tagen auch bei uns verteilen? In den Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen und den meisten anderen sozialen Bereichen gab es schon vor der Pandemie eine strukturelle Überforderung, die sich jetzt umso drastischer offenbart. Die bis zuvor nicht nur unhinterfragte, sondern zum höchsten Ideal verklärte Kultur des Konsums bricht durch das Virus wie ein Kartenhaus zusammen. Im Ausnahmezustand dankt aber auch das Recht ab.
Wir erleben eine rasante Beschneidung von Grund-, Bürger- und Menschenrechten. Das alles wird mit Infektionsschutz und Seuchenbekämpfung begründet, momentan noch zu Recht. Allerdings darf es nicht zum Dauerzustand werden. Die Zivilgesellschaft, wir alle sind gefordert mitzudenken und uns in den Entscheidungsprozess einzubinden, um für uns und unsere Kinder eine bessere Zukunft zu ermöglichen. In Zeiten globaler Pandemien muss auch das Recht auf Gesundheit global umgesetzt werden – wir müssen den nationalistischen und egoistischen Tendenzen, die sich jetzt in der Krise immer stärker auch zeigen (denken wir nur an den globalen Verteilungskampf um Masken und Schutzausrüstung) entgegensetzen. Vor allem aber müssen wir die Fehler der Vergangenheit zugeben, die den aktuellen Notstand herbeigeführt haben: die dramatische Unterversorgung in unseren Gesundheitssystemen. Das Menschenrecht auf Gesundheit wurde schon vor der Pandemie nicht garantiert. Viele sozialpolitische Forderungen drängen gleichfalls in den Vordergrund: Arbeitsschutzrechte wie für jene, die in prekären Arbeitsverhältnissen bisher standen; Vergesellschaftungen von Infrastrukturen und Einrichtungen, die lebensnotwendig sind; gerechte Entlohnungen, die ein Leben in Würde ermöglichen… Es reicht nicht bei billigen Krediten für die Familien und Unternehmen (die zurückzuzahlen sind), Lebensmittelgutscheinen, einmaligen Entschädigungen, Aufschiebung der Gebühren und Steuern. Eines wage ich vorauszusagen: Wir werden das Virus nicht so schnell wieder los. Es wird uns weiter begleiten, weil es die Fähigkeit zur stetigen Veränderung hat. Aus dem gleichen Grund werden auch wir bleiben. Wir können sogar entscheiden, in welche Richtung wir uns verändern wollen. Sars-CoV-2 schenkt uns nichts – außer gerade ein bisschen Zeit, über all das mal in Ruhe nachzudenken.
Ein Essay in Zeiten der Krise von Josef Prantl