Manchmal kehrt uraltes, fast vergessenes Wissen in unsere Gegenwart zurück – oft unter neuen Namen und in neuen Formen. Das Räuchern zum Beispiel.
Ich erinnere mich gut daran, wie wir alljährlich am 6. Jänner mit unserem Vater in Reih und Glied betend durch Haus und Hof pilgerten, in der Hand die alte Pfanne mit der Glut, aus der wohlriechender Weihrauch entstieg. Obligater Abschluss der Zeremonie war es jedes Mal, dass wir alle unsere Köpfe über die Glutpfanne hielten, um den Weihrauch einzuatmen. Dies sollte uns im neuen Jahr vor Halsweh und anderen Krankheiten verschonen.
Die 12 Tage zwischen Weihnachten und Heilig-Drei-König, die 12 Tage „zwischen den Jahren“, waren für unsere Vorfahren „Raunächte“. Man glaubte, dass die „Geister“ in diesen längsten Nächten des Jahres den Menschen besonders nahe sind. Die Raunächte könnten ihren Namen auch vom „Räuchern“ erhalten haben. Denn früher wurden zu dieser Zeit Ställe und Wohnräume mit Weihrauch ausgeräuchert. Gegen „alle teüfel, gespenst vnd zauberey“, wie zwei Chronisten im 16. Jahrhundert notierten. Geräuchert wurde früher aber nicht nur in den Raunächten, sondern auch zu anderen Anlässen wie Erntedank oder den Sonnwend-Tagen. An Allerseelen gedachte man zum Beispiel mit Rauchopfern der Ahnen. Zu Lichtmess oder am Karfreitag reinigte man Haus und Hof. Alle frühen Formen von Spiritualität und Religiosität weltweit kannten das Räuchern als eine der wichtigsten rituellen Handlungen. Über die Religionen der Antike fand die Räucherzeremonie Eingang ins Christentum, Judentum, den Buddhismus und Islam.
Botschaften an den Himmel
Schamanen, die Medizinmänner bedienten sich der Räucherung meist für magische und religiöse Rituale, in denen ebenso um profane Dinge wie Jagdglück, gute Ernten oder Reichtum gebetet wurde wie auch um die Erlangung von Wissen, Erkenntnis oder Weisheit. Der aufsteigende Rauch sollte die Wünsche und Bitten der Menschen zum Himmel und damit zu den Göttern tragen. Nicht selten versetzten sich die Priester durch Räucherungen mit bewusstseinsverändernden oder halluzinogen wirkenden Pflanzen in Trance, um auf diese Weise Zugang zur mystischen Welt zu erlangen. In diesem Zusammenhang gelten Funde kleiner Räucherkuchen aus der Zeit von 7200 vor Christus im heutigen Skandinavien als älteste Belege für religiöse Räucherungen bei Gottesdiensten. Bekannter sind heute die rituellen Rauchzeremonien der Antike, wie sie zum Beispiel von den griechischen und später römischen Seherinnen bei Wahrsagungen eingesetzt wurden.
Weihrauch in der christlichen Welt
Vieles vom Wissen der antiken Völker über die Spiritualität der Düfte hat sich bis heute im Christentum erhalten. Das Räuchern zu feierlichen Anlässen wie Weihnachten, während einer feierlichen Andacht, im Sterbezimmer, bei Begräbnissen oder als Weihung ist uns allbekannt. In den östlichen Kirchen spielt der Weihrauch während der Gottesdienste eine ganz große Rolle. Weihrauch ist das natürliche Harz der knorrigen Balsambaumgewächse aus Arabien und Indien und wird durch Anritzen der Rinde gewonnen. Das Räucherharz, auch unter dem Namen „Olibanum“ bekannt, zählte lange Zeit zu den größten Kostbarkeiten. Sein spiritueller süßlich-schwerer Wohlgeruch erfüllte Tempel, Kirchen und Synagogen der großen Religionen und stimmte die Menschen auf die gemeinsamen Gebete ein. Darüber hinaus hat der Weihrauch in der katholischen Kirche auch noch eine andere Bedeutung erlangt: Er steht für die Reinigung im symbolischen Sinne, für Verehrung und Gebet.
Gerüche erwecken Gefühle
Räuchern ist im Grunde die Wurzel der heutigen Aromatherapie und Parfümerie. Es ist schon bemerkenswert, dass das Wort „Parfüm“ vom Lateinischen „per fumum“ kommt, was so viel wie „durch den Rauch“ bedeutet. Düfte beeinflussen die Stimmung, erwecken Gefühle, regen die Phantasie an und können Körper und Seele zur Entspannung verhelfen. Mit Harz oder Pflanzenteilen wurde schon im alten Ägypten geräuchert. Im Mittelalter erfüllte der Weihrauch in den Kirchen zuerst einmal eine praktische Funktion: Er übertünchte die Körpergerüche, die durch mangelnde Reinlichkeit entstanden. Außerdem versetzte er die Menschen in eine festliche Stimmung. Denn Düfte wirken auf die Psyche: Die Nase hat als einziges Sinnesorgan einen direkten Draht zum Gehirn, genauer gesagt zum limbischen System. Dort werden Gefühle erzeugt und Erinnerungen gespeichert. Jeder Geruch ruft sofort eine Erinnerung hervor und gleichzeitig auch das Gefühl, das mit der Erinnerung verbunden ist.
Auf die richtige Mischung kommt es an
Zum Räuchern braucht man die richtige „Ausrüstung“: eine feuerfeste Räucherschale, geeignete Kohle, eine Feder oder einen Fächer, um den Rauch zu verteilen, und Räucherwerk. Das kann Salbei, Fichtenharz, Wacholder, Engelwurz, Holunder, Lavendel, Weihrauch bzw. Myrrhe sein.
Die Nordtirolerin Annemarie Zobernig (auf dem Titelbild) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Räuchern und ist zertifizierte Räuchermeisterin. Wir sprachen mit ihr:
„BAZ“: Sie beschäftigen sich mit dem Räuchern, als es noch nicht so „in“ war wie heute. Wie sind Sie dazu gekommen und was ist die Faszination des Räucherns?
Annemarie Zobernig: Riechen heißt für mich, mich zu erinnern. Der Duft von Weihrauch zum Beispiel ist für mich unmittelbar mit Weihnachten und Zuhausesein verbunden. Mein Vater war viel mit uns Kindern im Wald unterwegs, und den Geruch von warmem Waldboden verbinde ich mit unzähligen kleinen Abenteuern, die wir dort erlebten. Bei meiner Arbeit in der Tischlerei und in der Wohnberatung wurde mir bewusst, dass Wohlgefühl nicht nur mit Gegenständen, sondern auch mit Düften zu tun hat. Und da ich auch spirituell auf der Suche nach dem Sinn hinter den Dingen war, stieß ich auf das Räuchern und seine wunderbare Wirkung für Mensch und Raum.
In der bäuerlichen Welt spielt Räuchern bis heute bei uns eine Rolle. Worauf geht diese Tradition zurück?
Die Verbindung mit der Natur ist in der bäuerlichen Welt Teil des Alltags. Das harmonische Zusammenspiel von Sonne, Mond und Erde ist hier kein astrologischer Humbug, sondern das Wissen um die Vorgänge in der Natur entscheidet über Erfolg, Ernte und Überleben. Wir alle stehen in Verbindung mit den Kräften der Natur, doch ein Landwirt erfährt diese am unmittelbarsten, darum haben sich die Bräuche hier besonders bewahrt.
Schutz und Gesundheit soll es bringen. Steckt hinter dem Brauchtum denn auch ein Funken Wahrheit?
Beim Räuchern werden die Duft- und Wirkstoffe der Pflanzen für den Menschen und den Raum nutzbar gemacht. Wir nehmen die Kraft der Pflanzen über unsere Nahrung, über Gewürze und Tees zu uns – doch auch unsere Gefühls- und Gedankenwelt wird durch die Düfte unmittelbar beeinflusst, wie die Geruchs- und Gehirnforschung immer besser zu belegen weiß. Brauchtum kommt von „etwas brauchen“ – die Menschen spüren, dass sie in den Herausforderungen des Alltags und gerade in der dunkleren Jahreszeit mehr Kraft brauchen, um die Herausforderungen des Alltags körperlich, psychisch und seelisch besser meistern zu können.
Sie bieten eigene Räucherseminare und Ausbildungen an. Was macht die Tradition unserer Ahnen heute wieder so aktuell?
Über Jahrzehnte haben viele Menschen den direkten Bezug zur Natur verloren. Nicht nur altes Wissen um die Wirkkräfte der Pflanzen, sondern auch tiefsitzender Aberglaube wurde durch Erkenntnisse aus Wissenschaft und Medizin ersetzt. Heute kann sich uraltes Wissen um die Kräfte der Natur mit den wissenschaftlichen Methoden verbinden und uns in ganzheitlicherer Form dienen als je zuvor. Der Mensch sehnt sich nach der Natur und ihren wunderbaren Kräften. Das Räuchern ist die älteste Methode, an die duftenden Wirkstoffe von Pflanzen heranzukommen. Sie ist in jeder Kultur verankert und gehört zum Erbe der Menschheit wie Essen, Trinken und Sprache.
Wie kann man als Anfänger mit Räuchern beginnen und was braucht man alles dazu?
Lassen Sie Ihre Nase entscheiden, ob Ihnen eher blumige, fruchtig-frische, würzige oder erdige Düfte zusagen. Sie brauchen ein feuerfestes Gefäß mit ca. 15 cm Durchmesser mit einer Schicht grobem Sand darin, darauf entzünden Sie eine Räucherkohle und warten etwa 10 Minuten, bis diese an der Oberfläche von einer weißen Ascheschicht überzogen ist. Dann legen Sie getrocknetes und zerkleinertes Räucherwerk auf. Harze, Kräuter, Blüten… oder eine fertige Räuchermischung und lassen sie auf der Kohle, solange sie einen angenehmen Duft verbreiten. Wird der Geruch brenzlig, nehmen Sie das Räucherwerk mit einem kleinen Löffel von der Kohle und dämpfen es im Sand aus.
Was sollte man beim Kauf von Räucherwerk beachten und worauf stehen Sie besonders?
Egal ob Sie einzelne Räucherstoffe wie Harze, Kräuter oder Blüten kaufen, oder fertige Mischungen – achten Sie darauf, dass sie naturrein sind. Also ohne synthetische Zusätze oder Parfüms. Sehr hochwertig sind Rohstoffe aus kontrolliertem und biologischem Anbau oder aus achtsamer Wildsammlung. Blüten oder Blätter im Ganzen sind sehr hübsch anzusehen, riechen aber sehr schnell verbrannt.
Am besten, Sie lassen sich den Räucherduft auf der Kohle vorführen. Ich mag am liebsten ausgewogene professionelle Mischungen, da sie für den Körper am verträglichsten sind, eine umfassende Wirkung haben und auch in Räumen sehr effizient eingesetzt werden können. Am liebsten habe ich im Moment eine harmonisierende Mischung mit Lavendel, Styrax, Mastix und Cistus Labdanum namens „Feenlicht“. Sie bringt Licht in mein Inneres und gibt mir Ordnung, Struktur und berührt mein Herz.
Wissenschaftliche Untersuchungen weisen auch auf eine mögliche Gesundheitsgefährdung durch Räuchern hin, etwa durch Feinstaub oder schlechte Räucherstäbchen?
Das hängt hauptsächlich von der richtigen Anwendung und der Rohstoffqualität ab! Oft wird das Räucherwerk „verbrannt“ – statt auf gut durchgeglühter Kohle die feinen Duft- und Wirkstoffe der Pflanzen freizusetzen. Wesentlich ist, das Räucherwerk auch wieder von der Kohle zu entfernen, bevor es brenzlig riecht, sanft zu dosieren und auch mal zu lüften, dann ist mit keinerlei Feinstaubbelastung zu rechnen. Synthetische Düfte (egal ob in Räucherstäbchen, Raumbeduftern oder in künstlichen Parfüms) desensibilisieren unsere Nasen und haben nicht den Bruchteil der Wirkung eines natürlichen Räucherduftes. Von Dauerbeduftung halte ich ebenfalls sehr wenig, da unser Geruchssinn Düfte nach wenigen Minuten „ausblendet“. Richtiges Räuchern gibt uns angenehme Duft-Impulse, wir spüren was uns guttut, und lernen, uns selbst wieder besser wahrzunehmen.
Wie ist die heilende Wirkung des Kräuter-Rauches entdeckt worden?
Räuchern ist die älteste Methode, um an die heilenden Wirkstoffe nicht essbarer Pflanzen heranzukommen, lange bevor es Salben, Öl- oder Alkoholauszüge aus Pflanzen oder künstlich hergestellte Medikamente gab. Die Menschen lebten am Feuer und spürten die wohltuende Wirkung unterschiedlicher Pflanzen, die auf die heißen Steine oder die Glut gelegt wurden. Seit Jahrtausenden hat man Wasser in der Wüste durch Beräucherung mit Myrrhe keimfrei gemacht, in den griechischen Heilungstempeln des Asklepios wurden mit Räucherdüften die heilsamen Kräfte des Träumens unterstützt und im dunklen Mittelalter wurden Räucherdüfte bei der Versorgung von Pestkranken eingesetzt.
Welche Räuchertipps haben Sie für Neueinsteiger?
Folgen Sie dem Gefühl und der Nase, wenn es um die Auswahl von Düften geht. Erfahren Sie selbst bei einem guten Räucherseminar die richtige Handhabung, Anwendung und Wirkung des Räucherns. Wissen übers Räuchern erhalten Sie aus Büchern – erleben können Sie es aber nur „der Nase nach“ – mit dem ganzen Körper. Finden Sie „Ihre“ Art des Räucherns: praktisch, genussvoll, schön, ästhetisch und wohlduftend. Das Räuchern darf dem Menschen dienen und nicht der Mensch dem Räuchern. Lauschen Sie den Düften – und nehmen Sie sich Zeit, nachzuspüren, was die Düfte in Ihnen bewegen. Begegnen Sie sich selbst auf dem Weg der Räucherdüfte.
von Josef Prantl