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Historische Meilensteine

Im Donbass tobt der Krieg. Die Region im Südosten der Ukraine  grenzt an Russland. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Russen. Seit 2014 schwelt dort ein Bürgerkrieg, Millionen Menschen wurden seitdem zur Flucht gezwungen. In der Herz-Jesu-Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 explodierten in Südtirol die Bomben. Die Südtiroler wollten ihrem „Todesmarsch“ nicht mehr  tatenlos zusehen.
von Josef Prantl

Die Klagen der russischen Minderheit in der Ukraine nahmen bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit des Landes zu. Mit der Absetzung des prorussischen ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Janukowitsch 2014 setzten sich die Separatisten im Donbass gewaltsam gegen die Regierung in Kiew zur Wehr. Unterstützt von Russland besetzten sie die Regionen Luhansk und Donezk – und erklärten nach einem umstritten Referendum 2014 die „Volksrepublik Luhansk“ und die „Volksrepublik Do­nezk“ für unabhängig. Am 24. Februar 2022 begann Russland einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Der seit 8 Jahren schwelende Konflikt war damit eskaliert.

Feuernacht
Im Juni 1961 trafen sich in Zernez in der Schweiz 10 Vertreter des Nord- und Südtiroler BAS (Befreiungsausschuss Südtirol), um sich zu beraten, wie man auf die unnachgiebige Haltung der italienischen Regierung gegenüber den Südtirolern reagieren könne. Das Datum der Feuernacht wurde festgelegt: In der Herz-Jesu-Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 wurden Dutzende Strommasten in die Luft gejagt. Menschenleben durften nicht gefährdet werden, was allerdings nicht aufging. Bis in die 1980er Jahre gab es im ganzen Land Anschläge mit unterschiedlichen Akteuren, teils aus dem Neonazi-Milieu, selbst Geheimdienste hatten ihre Finger im Spiel. Und es gab Tote. Nordtirols ÖVP-Landesrat Aloys Oberhammer meinte 1959: „Blut muss fließen“. Zur Eskalation ist es zum Glück aber nicht gekommen.

Starke Autonomie entzieht Separatismus den Boden
Mit der Autonomie von 1972 begann ein – zwar sich Jahrzehnte hinziehender – friedlicher Lösungsweg der Südtirol-Frage. Zurecht stand der Juni heuer im Zeichen von zwei ganz großen historischen Ereignissen Südtiroler Geschichte: das 50-jährige Jubiläum des 2. Autonomiestatuts und 30-Jahre Streitbeilegung. „Ich bin zu einem erklärten Anhänger der Autonomie geworden“, sagte Andreas Khol bei einer Tagung an der Freien Universität Bozen. Der österreichische ÖVP-Politiker und ehemalige Parlamentspräsident mit Südtiroler Wurzeln kennt beide Seiten: die Separatisten, die über die Selbstbestimmung das „Los von Rom“ forderten und die Verfechter einer starken Selbstverwaltung für Südtirol. Die italienischen Regierungen hätten sehr bald schon verstanden, dass eine starke Autonomie dem Separatismus in Südtirol den Boden entziehe, sagte Khol. Es waren kompromiss- und gesprächsbereite Politiker auf beiden Seiten, die Südtirols Autonomie zu einem Erfolgsmodell werden ließen. Khol nannte Giulio Andreotti, dem Alcide Berloffa; Alois Mock, dem Ludwig Steiner; und Silvius Magnago, dem Hartmann Gallmetzer zur Seite standen. Rom habe sich an die Abmachungen gehalten, das habe ihn positiv überrascht, sagte Khol, auch wie Italien sich zur Finanzautonomie halte: „Die Südtiroler stellen heute das Staatsganze nicht in Frage, weil sie eine gute Autonomie haben!“

Weltweites Vorzeigemodell?
„Die Südtirolautonomie ist ein Erfolgsmodell für die friedliche Lösung von Minderheitenkonflikten”, sagte Alexander Schallenberg beim großen Festakt „30 Jahre Streitbeilegung“ am 11. Juni im Bozner Stadttheater. Vor dem Hintergrund der heutigen Konflikte – der österreichische Außenminister nannte die Ukraine und den Westbalkan – sei das alles andere als selbstverständlich. Schallenberg nannte Dialog- und Kompromissbereitschaft, gegenseitigen Respekt und Vertrauen als Grundvor­aussetzungen. Das Südtiroler Modell gewinne in einem historischen Augenblick wie diesem noch größere Bedeutung, weil es ein Beispiel für die friedliche Lösung eines Konflikts dank der Achtung und der Miteinbeziehung von Minderheiten und der nationalen Souveränität darstelle, pflichtet Italiens Außenminister Luigi Di Maio bei. Als ein „Best-Practice-Beispiel für die Welt“ sieht der UN-Sonderbeauftragte Fernand de Varennes die Südtirolautonomie. Weltweit stehe es um Minderheitenrechte hingegen schlecht, sagte der hohe UN-Vertreter. Auch wenn Minderheitenrechte im Völkerrecht und in der UN-Charta verankert sind, werden sie in vielen Staaten nicht umgesetzt bzw. stehen nur auf dem Papier. „Ich vertraue Italien“, sagte Andreas Khol, auch wenn Stimmen meinen, dass mit der Verfassungsreform von 2001 eine Reihe von Zuständigkeiten der Südtirolautonomie entzogen worden seien. So kritisiert Landeshauptmann Arno Kompatscher die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, die eine Weiterentwicklung der Südtirolautonomie behinderten. Und so lautet die Forderung: Anpassung und Wiederherstellung des Zustandes von 1992!

Dialog und Wille
Im Juni 1992 haben Italien und Österreich die Auseinandersetzung um die Rechte und den Status von Südtirol in hochoffizieller Form beigelegt. Es war der SPÖ-Außenminister Bruno Kreisky gewesen, der die Südtirolfrage Anfang der 1960er Jahren vor die UNO gebracht hatte. Drei Jahrzehnte später, am 19. Juni 1992, überreichte Österreich Italien vor dem UN-Sekretär Boutros-Ghali die Urkunde, mit der die Südtirolfrage formell als abgeschlossen erklärt wurde. Kritiker behaupten, dass Südtirol mit der Streitbeilegungserklärung für den damals nicht rasch genug gehenden EU-Beitritt Österreichs einen sehr hohen Preis bezahlt habe.Durch die Streitbeilegungserklärung wurde das Paket aber mit dem Pariser Vertrag in Verbindung gebracht und auf diese Weise völkerrechtlich gestärkt, ist Walter Obexer überzeugt. Das ist von rechtlicher Bedeutung, da das Paket den Pariser Vertrag präzisiert und signifikant erweitert. Außerdem wurde das sogenannte Konsensprinzip zwischen Rom und Bozen bei allen Abänderungen und zukünftigen Entwicklungen der Autonomie völkerrechtlich verankert. Änderungen am Autonomiestatut wie es 1992 in Kraft war, sind zudem vor Beschlussfassung Österreich mitzuteilen. Dieses kann dann auch Einspruch erheben.

Blick in die Zukunft
Dieses Vorzeigemodell weiterzuentwickeln, sei die Aufgabe umsichtiger Politik. Andreas Khol rät zu vorsichtigen Schritten und warnt vor Forderungen, die zu weit gingen: etwa eine Österreich-Ungarn-Politik der k.u.k-­ Mo­nar­chie als Vorbild für Südtirol. Die größte Gefahr für die Südtiroler seien aber Streitigkeiten innerhalb der Bevölkerung. Solange man geeint vorgehe, sei die Südtiroler Minderheit geschützt, ist sich Khol sicher. „Die Autonomie hat dem Land Frieden beschert und das einstige Armenhaus Europas zur blühenden Region gemacht“, sagt Landesrat Philipp Achammer.

Abänderungen am Autonomiestatut sollten nur im Einvernehmen mit dem Landtag erfolgen dürfen

Während im Bozner Stadttheater am 11. Juni mit großer Politpräsenz „50 Jahre Autonomie und 30 Jahre Streitbeilegung“ gefeiert wurden, fand an der Freien Universität Bozen zeitgleich eine Tagung statt, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven näherte.

Der ehemalige Senator Oskar Peterlini

Das dichte Programm sah Vorträge zahlreicher bekannter Europarechtler, Historiker und Politologen der Universitäten Bozen, Trient und Innsbruck vor. Online zugeschaltet wurden von politischer Seite Landesrat Phi­lipp Achammer, der ehemalige österreichische Nationalratspräsident Andreas Khol, der ehemalige österreichische Außenminister Peter Jankowitsch und Enrico Letta, ehemaliger italienischer Ministerpräsident. Mitorganisiert wurde die Tagung vom langjährigen Senator Oskar Peterlini (2001 – 2013), der an der Universität Bozen Politikwissenschaften lehrt. Im BAZ-Interview nimmt der Universitätsdozent und Verfassungsrechtler unter anderem Stellung zur Absicherung der Au­tonomie und des Pakets.

Einige behaupten, Südtirol hätte mit der Streitbeilegungserklärung für den damals nicht rasch genug gehenden EU-Beitritt Österreichs einen sehr hohen Preis bezahlt. Neben vielen Maßnahmen, die noch zu treffen seien, fehlten nun vor allem Schutz- und Rechtsgarantien. Also kein Grund zum Feiern nach 30 Jahren Streitbeilegung?
Oskar Peterlini: Die Streitbeilegung war umstritten, aber es gab eine positive Auswirkung. Das Pa­ket war bei der berühmten, knap­pen Abstimmung in der Nacht auf den 23. November 1969 ja deshalb umkämpft, weil u. a. eine innerstaatliche und internationale klare Absicherung fehlte, wonach Abänderungen nur im Einvernehmen erfolgen könnten. Der Standpunkt Italiens war, es handle sich um eine innerstaatliche Angelegenheit. Nach dem neuen Autonomiestatut von 1972 und zwanzig Jahren mühsamen Verhandelns um über 200 Durchführungsbestimmungen erklärte Ministerpräsident Andreotti am 30. Jänner 1992, dass Italien alle im Paket vorgesehen Maßnahmen erfüllt habe. Das war, auf das Pa­ket bezogen, tatsächlich der Fall. Er erklärte, auf Ersuchen der Süd­tiroler Vertreter aber auch, dass es notwendig sei „…die Mitverantwortung und den politischen Konsens, die bisher zwischen den zen­tralen Mächten und den betroffenen Bevölkerungen erreicht wurden, fortzusetzen, auch für den Fall einer eventuellen Notwendigkeit, normative Bestimmungen abzuändern.“ Das war ein Fortschritt, wenn auch vage formuliert, aber immerhin wurde die Erklärung von den beiden Kammern des Par­lamentes genehmigt. Rom übergab die gesamten Maßnahmen der österreichischen Regierung.

Wie gut ist aber unsere Autonomie im Völkerrecht und in der italienischen Verfassung wirklich verankert?
Die Autonomie ist im Pariser Vert­rag, also im Völkerrecht verankert, aber das Paket nicht. Mit dieser Übergabe des neuen Autonomiestatutes, aller erlassenen Gesetze und Durchführungsbestimmungen an Österreich spreng­te Andreotti den bis dahin geltenden Rechtsstandpunkt, dass es sich beim Paket nur um innere italienische Angelegenheit handle. Wien konnte die Streitbeilegung auf dieser Grundlage abgeben, ergänzte in diesem Sinne die Erklärung vor der UNO, so dass man davon ableiten kann, dass zukünftige Änderungen ebenfalls Österreich vorgelegt werden müssen. Später folgten effektiv weitere Mitteilungen Italiens an Wien, sodass man von einer schrittweisen, nachträglichen internationalen Verflechtung reden kann. Der Rechtsstandpunkt Italiens, es handle sich beim Paket nur um eine innerstaatliche Angelegenheit, wurde aufgeweicht und das Paket erhält als Durchführung des Pariser Vertrages völkerrechtliche Relevanz.

Verhandlungen mit dem ehemaligen Minister für öffentliche Arbeiten Antonio Di Pietro

Und innerstaatlich?
Ein Einvernehmen gilt für die Vor­bereitung der Durchführungs­bestimmungen (in der Sechser- und Zwölferkommission), nicht für das Autonomiestatut. Das Autonomiestatut ist ein Verfassungsgesetz und steht damit im höchsten Rang der Rechtsquellen gleich hoch wie die Verfassung Italiens selbst. Das ist eine Garantie. Die Verfassungsgesetze müssen aber (mit hohen Mehrheiten) vom Parlament erlassen werden, so steht es in der Verfassung. Wichtig wäre rechtlich festzulegen, dass es dafür auch das Einvernehmen des Südtiroler Landtages braucht. Wir haben als Parlamentarier mehrmalige Vorstöße unternommen, fanden sogar die Zustimmung der Mehrheit, aber der Durchbruch steht noch aus. Erst nachher sollte man darangehen, den längst fälligen Ausbau des Statutes anzugehen und es im Parlament aufzuschnüren. Sonst wird es, bei dem großen Neid Südtirol gegenüber gefährlich.

Mit der Verfassungsreform von 2001, hört man oft, sei es zu einer Beschneidung der Kompetenzen gekommen? Stimmt das?
Die Verfassungsreform stärkte ganz im Gegenteil erheblich die Regionen in Italien und in der Folge (mit einer Besserstellungsklausel) auch Südtirols Autonomie. Dem Verfassungsgerichtshof ging das aber alles zu weit. Obwohl die Verfassungsreform Regionen, Provinzen und Staat auf die gleiche Ebene stellt (Art. 114), teilte das höchste Gericht dem Staat eine übergeordnete Rolle zu. Der Verfassungsgerichtshof nahm dann eine einengende Auslegung verschiedener Bestimmungen aller Regionen, nicht nur Südtirols vor. In der Folge legte er fest, dass Staatszuständigkeiten als transversale Bereiche im Konflikt überwiegen: z. B. Umweltschutz gegenüber Jagd, Einwanderung gegenüber Arbeit, Vertragswesen gegenüber öffentlichen Arbeiten. Auch „erfand“ er sogenannte implizite staatliche Zuständigkeiten, wie die Begrenzung der Aufnahmen im öffentlichen Dienst und die Mobilität: Nur der Staat könne Normen erlassen, die (im Interesse der Einheitlichkeit) für alle Verwaltungen gelten. Bei Überwiegen der Zuständigkeit des Staates könne die Besserstellungsklausel nicht angewandt werden.

Haben die Urteile der Verfassungsgerichtshofes die Autonomie rückgebaut, die Kompetenzen im Vergleich zu 1992 stark beschnitten und eine Weiterentwicklung gar verhindert?
Die Urteile haben einige Kompetenzen beschnitten. Aber die Verfassungsreformen haben uns nach der Streitbeilegung von 1992 Fortschritte gebracht, die man sich bei der Paket -Debatte nicht einmal erträumen konnte. Da muss man ehrlich und korrekt sein. Viele neue konkurrierenden Zuständigkeiten stehen nicht im Autonomiestatut, sondern gehen weit darüber hinaus: Internationale Beziehungen und ihre Beziehungen zur EU; Außenhandel; Berufe; wissenschaftliche und technologische Forschung; Ernährung; Zivilschutz; Häfen und Zivilflughäfen; große Verkehrs- und Schifffahrtsnetze; Energie. Manche unserer Zuständigkeiten wurden sogar primär, müssen sich also nicht mehr an die Grundsätze der Staatsgesetze halten: die Arbeitsvermittlung; die Ortspolizei, der Handel, das Lehrlingswesen, Arbeitsbücher und Berufsbezeichnungen, öffentliche Vorführungen und öffentliche Betriebe, außer der öffentlichen Sicherheit, Lizenzen (außer für Bereiche des Staates). Zusätzlich gab es Maßnahmen für die Ladiner, für die deutschen Minderheiten auch im Trentino und die Aufwertung des Landtags, der seit 2001 direkt gewählt wird, nicht wie früher als Unterorganisation des Regionalrates. Damit kann das Land in diesen Bereichen wesentlich autonomer handeln als zuvor.

Großer Erfolg für Peterlini: Enel- und Edisonkonzessionen gehen an das Land

Die Bilanz ist also positiv?
Eindeutig. Die wichtigsten Errungenschaften nach dem Paketabschluss sind vor allem die Öffnung der Autonomie für internationale Zusammenarbeit und zur EU und der Wegfall der präventiven Kontrolle der Landesgesetze. Landesgesetze müssten laut Text des Autonomiestatutes (Art. 55) dem Regierungskommissar vorgelegt werden, die Regierung kann sie zurücksenden, der Landtag muss sie korrigieren oder beharren, der Staat kann sie sogar vors Parlament bringen. Aufgrund der Verfassungsreform treten nun Landesgesetze ungehindert sofort in Kraft. Zu diesen Grundlagen auf dieser höchsten verfassungsrechtlichen Ebene kommen ungefähr 50 Durchführungsbestimmungen, viele Delegierungen (Schule, Lehrer, Straßen, Universität, Rai Südtirol, Kataster, Gerichtsämter usw.) und Finanzbestimmungen, die übers Paket hinausgehen. Die Bilanz ist deshalb trotz einiger Abstriche des Verfassungsgerichtshofes eindeutig positiv.

Autonomie wird mit Minderheitenschutz gleichgestellt. Die Frage danach, welche Gesellschaft durch den Schutz und Ausbau der Autonomie heute aber in Südtirol vertreten wird, ist nicht so klar beantwortet. Autonomie wird vielerorts noch immer als rein deutsches und ladinisches Thema gelebt. Die zu schützende Einheit scheint noch immer jene zu sein, die vor 50 Jahren im 2. Autonomiestatut verankert wurde. Müssen wir umdenken?
Nicht unbedingt, das Autonomiestatut beinhaltet beides, Minderheitenschutz und Autonomie, man muss es nur richtig lesen. Der erstere bezieht sich auf die deutsche und ladinische Minderheit, betrifft Sprache, Kultur, Schule, Proporz usw., damit sich die sprachlichen Minderheiten in einem sprachlich anderen Staat frei und gleichberechtigt entfalten können. Die Autonomie geht darüber hinaus, gibt den Minderheiten, aber nicht nur, mehr eigene Gestaltungsmöglichkeiten für die Gemeinschaft, die Wirtschaft, das soziale Leben, die Kultur. Autonomie gilt somit für alle Sprachgruppen im Lande und ist effektiv allen zugute gekommen. Und das soll so sein.

Die absolute Mehrheit hat die Südtiroler Volkspartei schon lange nicht mehr, vertritt aber immer noch die Mehrheit der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung. Sollte sich in Zukunft das politische Gleichgewicht ändern, verliert die Partei dann nicht das Alleinvertretungsrecht? Müssen also neue Methoden zur Minderheitsvertretung gefunden werden?
Die SVP hat bei den jüngsten Wahlen 2018 knapp 42 % aller Stimmen erhalten, also keine absolute Mehrheit mehr. Sie hält aber noch eine knappe Mehrheit von den deutschen und ladinischen Wählern, etwa 54 %, die anderen vorwiegend deutschen Parteien rund 46 % zusammen. Stellen wir uns vor, innerhalb der SVP gäbe es eine knappe Ablehnung gegen ein neues Minderheiten-Paket, sagen wir etwa 30 % von den 54 %, die restlichen 24 % wären dafür. Wenn die SVP allein entscheidet, würde das Paket abgelehnt. Bezogen aber auf alle deutschen und ladinischen Stimmen, wären für das Paket die 24 % innerhalb der SVP und (nehmen wir an) alle anderen deutschen Parteien (46 % zusammen), also zusammen 70 % der Deutschen und Ladiner. Das wäre die breite Mehrheit aller sprachlichen Minderheiten. Wenn eine wichtige Entscheidung fällt, sollten also alle Südtiroler und nicht nur ein Teil vertreten sein. Die Alleinvertretung kann rechtlich nie eine Partei sein, wenn es mehrere gibt, sondern immer nur eine gewählte Vertretung oder eine Abstimmung in einem gewählten Organ. 1969 gab es nur die SVP.

Der Vater der Südtirolautonomie Silvius Magnago mit Oskar Peterlini

Aber wie kann dann die Vertretung aller Südtiroler festgestellt werden?
Das Autonomiestatut sieht an zwei Stellen (Art. 56 und Art. 84) vor, dass im Landtag auf Verlangen der Mehrheit einer Sprachgruppe eine getrennte Abstimmung nach Sprach­gruppen erfolgen kann. Wenn es also um eine solche „ethnische“ Abstimmung ginge, in der es nur um die Befragung oder Haltung der Minderheiten ginge, gäbe es eine demokratisch legitimierte Vertretung und Abstimmungsmöglichkeit im Südtiroler Landtag. Wenn die Italiener auch betroffen wären, müsste natürlich der ganze Landtag abstimmen, aber man könnte die Haltung der sprachlichen Minderheiten klar festhalten.