Ob es denn nun wirklich nötig war, im Juli das Parlament aufzulösen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass am 25. September 2022 in Italien ein neues Parlament gewählt wird. Die gegenwärtige Legislaturperiode hätte eigentlich noch bis April 2023 gedauert.
von Josef Prantl
Kaum jemals in der italienischen Nachkriegsgeschichte hatte ein Regierungschef eine so große Zustimmung in der Bevölkerung wie Mario Draghi. Nach Ansicht vieler Beobachter war es wohl der Egoismus bei den Mitte-Rechts-Parteien, die in einem vorgezogenen Wahltermin Wahlchancen der eigenen Partei sahen und daher das Ende der Regierung Draghi vorzogen.
Kompliziertes Wahlsystem
Für den jetzt begonnenen Wahlkampf und für die Zusammensetzung des zukünftigen Parlaments ist das Wahlsystem von ausschlaggebender Bedeutung. Das gegenwärtige Wahlgesetz, nach seinem Urheber, dem PD-Abgeordneten Ettore Rosato „Rosatellum“ genannt, ist 2017 verabschiedet und 2018 zum ersten Mal angewendet worden. Es sieht ein gemischtes System zwischen Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht vor, wobei ersteres 37 % der Parlamentssitze, letzteres 61 % bestimmt. Die übrigen 2 % sind den Stimmen der Italiener im Ausland vorbehalten. Diese Proportion gilt für die Wahlen zu beiden Kammern: Abgeordnetenkammer und Senat. In jedem Wahlkreis kann unter Mehrheitswahl nur ein Kandidat gewählt werden.Mit dieser Reform wurde das Parlament auch deutlich verkleinert. In der Abgeordnetenkammer wird es nicht mehr 630, sondern nur noch 400 Abgeordnete geben. Auch der Senat wurde verkleinert, und zwar von 315 auf 200 Senatoren.
In Südtirol gibt es drei Einmannwahlkreise für den Senat: Bozen/Unterland, Burggrafenamt/Vinschgau und Eisacktal/Pustertal. Den Sitz erhält, wer im jeweiligen Wahlkreis am meisten Stimmen erhält. Für die Kammer wird bei uns in zwei großen Einerwahlkreisen gewählt. Der eine umfasst Bozen-Unterland, Meran und das Burggrafenamt, der andere den Osten des Landes plus den Vinschgau. Drei weitere Sitze in der Abgeordnetenkammer werden in der gesamten Region Trentino Südtirol nach dem Verhältniswahlrecht vergeben. Diesen regionalen Kammerwahlkreis wird Dieter Steger (SVP) wohl für sich verbuchen.
Drei Kandidaten im BAZ-Gespräch
Im neuen Parlament werden somit weiterhin drei Südtiroler Abgeordnete und drei Südtiroler Senatoren sitzen, trotz der Reduzierung der Sitze in beiden Kammern. Die Meraner Rechtsanwältin und ehemalige Landtagsabgeordnete Julia Unterberger vertritt seit 2018 unser Land im Senat und stellt sich am 25. September der Wiederwahl. Für den Senat kandidiert erstmals auch die langjährige Leiterin der Volkshochschule „urania meran“ und derzeitige Direktorin des Museumsverbandes, Marlene Messner auf der Liste „Grüne/Sinistra Italiana“. Für die Kammer tritt unter anderen im Wahlkreis Bozen-Unterland-Meran-Burggrafenamt wieder der Rechtsanwalt Manfred Schullian von der SVP an, der seit 2013 im Parlament ist.
Ein BAZ-Gespräch mit Julia Unterberger, Manfred Schullian und Marlene Messner über Politik, aber auch ganz Persönliches.
Viele Bürger meinen, Politiker seien nur auf das Geld und die Macht aus. Bereitet Ihnen die Verachtung der Politik nicht Sorge?
Julia Unterberger: Ja, natürlich ist das eine besorgniserregende Entwicklung. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, in welcher die Politikerinnen und Politiker vom Volk gewählt werden und dieses vertreten sollen. Pauschalurteile gegenüber allen Politikerinnen und Politikern gefährden dieses System allerdings, zumal sich immer weniger Personen für die Politik zur Verfügung stellen werden.
Manfred Schullian: Selbstverständlich betrachte ich diese Verachtung von Politik mit Sorge, denn sie führt letztendlich zur Erosion der Demokratie und ebnet damit den Weg für undemokratische Regierungsformen.
Marlene Messner: Das Verhalten einiger Politikerinnen und Politiker lässt sicher zu wünschen übrig, oft genug geben sie kein gutes Beispiel ab. Ständiges „Politikerbashing“ ist meiner Meinung nach jedoch kontraproduktiv. Politiker sind eben auch nur Menschen und spiegeln genau die Gesellschaft wider, in der sie leben, sie sind nicht besser und nicht schlechter. Politiker sollten die Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler vertreten, aber auch im Sinne des Gemeinwohls Interessen ausgleichen. Zugegebenermaßen nimmt die Einflussnahme bestimmter Verbände und Wirtschaftstreibenden, auch hier in Südtirol, inzwischen unerhörte Ausmaße an. Gegen die Verachtung der Politik kann nur mit Fachwissen, engagierter Sachpolitik, mit einer Vision, die über Legislaturen hinausgeht, und mit einer sozial ausgleichenden Politik angegangen werden.
Die Skandale der Vergangenheit tragen zur Politikverdrossenheit bei. Braucht es mehr Ethik in der Politik und weniger Eigen- und Parteiinteressen?
Julia Unterberger: Sicher braucht es eine ordentliche Portion Ethik in der Politik, ich glaube aber, dass die meisten Politiker und Politikerinnen sehr viel Idealismus mitbringen und versuchen, das Beste für die Menschen zu tun. Schwarze Schafe gibt es überall.
Manfred Schullian: Diese Frage kann nur mit Ja beantwortet werden. Beunruhigend ist der Umstand, dass sich diese Frage überhaupt und in dieser massiven Form stellt. Die Rücknahme von Eigen- und von Parteiinteressen im Namen des kollektiven Wohls, wofür Politiker, aber auch Parteien agieren (sollten) und woraus sie ihre Berechtigung ableiten, sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Marlene Messner: Ja, auf jeden Fall. Ich bin aber nicht sicher, ob es mehr Politikverdrossenheit als früher gibt. Immer mehr Menschen engagieren sich zivilgesellschaftlich und im vorpolitischen Raum, denken wir an die Fridays-for-Future-Bewegung oder an das Engagement vieler Bürger beim Bewältigen der Flüchtlingskrisen. Ich bin stolz zu einer Bewegung zu gehören, bei welcher Skandale nicht auf der Tagesordnung stehen und in der es eine demokratische Gesprächskultur und den Willen zur konsensualen Entscheidungsfindung gibt.
Was bedeutet für Sie Politik?
Julia Unterberger: Politik heißt für mich, an der Gestaltung der Rahmenbedingungen der Gesellschaft mitwirken zu können. Das Parlament erlässt die wichtigsten Gesetze, die unser gesellschaftliches Zusammenleben regeln, daher ist es sehr wichtig, am Gesetzgebungsprozess teilhaben zu können.
Manfred Schullian: Politik bedeutet für mich Verantwortung und Auftrag. Ein gewählter Politiker hat den Auftrag, die Interessen seiner Wählerinnen und Wähler zu vertreten, allerdings nicht Einzelinteressen, sondern das kollektive Interesse. Dieses kollektive Interesse kann sich auf ein Staatsvolk beziehen, aber auch auf das Interesse eines bestimmten Territoriums. So ist es für uns Südtiroler Abgeordnete unser primärstes Interesse, die Anliegen Südtirols zu vertreten, allerdings ohne die Gesamtinteressen eines Gemeinwesens ganz aus den Augen zu verlieren, denn auch ausgleichende Sichtweisen sind Ausdruck von Verantwortung.
Marlene Messner: Ich war immer an Politik interessiert und habe mich seit jeher in verschiedenen Institutionen für politische Zielsetzungen engagiert. In meiner Zeit in der urania meran habe ich viele gesellschaftspolitische Projekte angestoßen, im Frauenmuseum setze ich mich als Vorstandsmitglied für Frauenkultur ein, für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für gleiche Bildungschancen von Mädchen und Jungen. Ich vertrete das Frauenmuseum auch im Landesbeirat für Chancengleichheit. Lange habe ich den Schritt in die institutionalisierte Politik gemieden, zum einen, um meiner Arbeitgeberin, der urania meran, eine politische Zuschreibung zu ersparen, zum anderen bin ich wohl erst mit dem Alter mutig genug geworden.
Was liegt Ihnen, sollten Sie gewählt werden, besonders am Herzen?
Julia Unterberger: Mir liegen besonders soziale Themen, Gleichstellungsfragen, zivile Rechte und der Tierschutz am Herzen.
Manfred Schullian: Natürlich Südtirol und unsere Autonomie in all ihren Facetten und Formen.
Marlene Messner: Ich möchte mich vor allem in der Bildung einsetzen. Es braucht in Italien eine Ausbildungsoffensive für junge Menschen mit Migrationshintergrund mit dem Fokus auf Spracherwerb und Fachausbildungen in Pflegebereich, im Handwerk etc. Ich bin überzeugt, dass der Fachkräftemangel behoben werden kann, wenn entsprechend investiert wird und alle bei uns lebenden Menschen unterstützt und ausgebildet werden. Wir brauchen mehr Frauen in technischen Berufen und mehr Männer in sozialen-pädagogischen Bereichen, wir brauchen mehr Frauen in Führungspositionen, wir brauchen mehr Frauen in der Politik. Dazu braucht es Maßnahmen, die ganz am Anfang ansetzen, z. B. die geschlechtersensible Aus- und Fortbildung des pädagogischen Personals in allen Bildungsbereichen. Unsere Bildungseinrichtungen, aber auch unsere Vereine, Parteien und Unternehmen müssen diverser werden, denn nur so repräsentieren sie die gesamte Gesellschaft.
Wie lautet Ihr Lebensmotto?
Julia Unterberger: „Lerne aus der Vergangenheit, träume von der Zukunft, aber lebe immer in der Gegenwart.“
Manfred Schullian: „Es gibt immer einen Weg.“
Marlene Messner: Als alte „Erwachsenenbildnerin“ bin ich davon überzeugt, dass wir unser Leben in die Hand nehmen und lebenslang dazu lernen können. Wichtig ist für mich, neugierig und offen zu bleiben, über den eigenen Gartenzaun hinauszublicken und zumindest einmal am Tag herzhaft zu lachen.
Haben Sie ein politisches Vorbild?
Julia Unterberger: Nein, eigentlich nicht.
Manfred Schullian: Mehrere, ohne jetzt den Anspruch zu erheben oder auch nur das Bedürfnis zu verspüren, diesen Vorbildern nachzueifern. Helmut Schmidt hat mich beeindruckt, Nelson Mandela fasziniert mich als Persönlichkeit, im Südtiroler Umfeld selbstverständlich Silvius Magnago mit seinem Kampfgeist, aber auch Roland Riz mit seiner sprachlichen Klarheit und Schärfe.
Marlene Messner: Eine Politikerin, die mir sehr gefällt, ist Sanna Marin, die junge Ministerpräsidentin Finnlands. Sie setzt sich unbefangen für die Belange junger Menschen ein und rückt Umweltthemen und die Ungleichbehandlung von Frauen ins Zentrum ihrer Regierungsagenda. Ihr Kabinett hat den höchsten Frauenanteil in der Europäischen Union; auch das finnische Parlament ist im Wesentlichen ausgewogen zwischen Männern und Frauen aufgestellt. Die Geschichte Finnlands ist von der Bestrebung geprägt, eine gleichberechtigte Gesellschaft zu schaffen.
Wenn eine Fee Ihnen über Nacht einen Wunsch erfüllen würde, welcher wäre das?
Julia Unterberger: Dass die Menschheit damit aufhört Tiere auszubeuten und zu misshandeln.
Manfred Schullian: Diesen Wunsch würde ich nur der Fee verraten.
Marlene Messner: Ich glaube nicht an Feen und fürchte, wir müssen uns selbst an die Arbeit machen, wenn wir etwas erreichen wollen.