Es verwundert, wie gelassen die Reaktionen ausfallen. Der Kammerabgeordnete Alessandro Urzì hat zwar den Innenminister gebeten, gegen das Buch „Kann Südtirol Staat?“ und die Autoren dahinter vorzugehen. Worum es darin geht: Um die Unabhängigkeit Südtirols, die Sezession von Italien.
von Josef Prantl
„Unser großes politisches Ziel ist der Freistaat Südtirol, ein unabhängiger Staat Südtirol, wo sich die drei Volksgruppen auf absoluter Augenhöhe begegnen können,“ forderte Ulli Mair schon vor vielen Jahren. Und weiter: „In meinen Augen ist das ein absolutes Friedensprojekt“, erklärte die langjährige Parteivorsitzende der Südtiroler Freiheitlichen.
Gewöhnlich geht der Ruf nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit vom rechten Lager aus. Diesmal weit gefehlt. „Wir sehen halt, dass ein eigener Staat schon sehr viele Vorteile bringen würde“, sagt Harald Mair. Der ehemalige Obmann-Stellvertreter der Südtiroler Bauernjungend ist Präsident von „Noiland Südtirol-Sudtirolo“. Dahinter steht ein Projekt, das 2014 seinen Anfang machte. Damals wurde in Schottland und Katalonien über die Unabhängigkeit abgestimmt. Die Spanier erstellten dafür ein sogenanntes „Weißbuch“: es sollte alle Fragen rund um die Unabhängigkeit für eine breite Öffentlichkeit einfach und verständlich beantworten.
Südtirols „Weißbuch“
Für die Unabhängigkeit
Die Idee für ein solches „Südtiroler Weißbuch“ war geboren. Als „bunten Haufen“ bezeichnet Mair das Team aus Wissenschaftlern, Professoren, Bloggern, Buchautoren und weiteren Sachkundigen. Sie alle eint, dass sie sich seit mehreren Jahren schon – mit unterschiedlicher Haltung versteht sich – mit dem Thema Eigenstaatlichkeit beschäftigen. Auf 300 Seiten haben sie nun ihre Ansichten, inwieweit Südtirol über seine derzeitige Autonomie hinauswachsen und als selbstständiger Staat bestehen könnte unter dem Titel „Kann Südtirol Staat?“ festgehalten. „Solange die Diskussion über politische Zukunftsfragen nicht durch nationalistische Ressentiments vereinnahmt wird, ist in einer demokratischen Gesellschaft an und für sich auch nichts dagegen einzuwenden“, kommentiert der ehemalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Reinhard Winterauer das Projekt.
Das Interesse ist groß. Seit Wochen wird landauf landab das Buch vorgestellt und füllt Säle. Im Juli auf Einladung des Ost-West-Clubs auch in Meran. Das Buch soll zur Diskussion über das bestmögliche Modell für Südtirols Zukunft anregen, wünschen sich die Herausgeber, und möchten „Zukunftsperspektiven wieder verstärkt in den Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Diskurses“ rücken. „Die Entwicklungen der vergangenen Jahre waren nicht die besten“, sind sich die Mitautoren Matthias Scantamburlo und Marco Manfrini einig. Allen Lobeshymnen zum Trotz handele es sich bei der derzeitigen Südtirol-Autonomie um eine unvollständige Teilautonomie. Von einem weitreichenden Ausbau der Autonomie sei in den vergangenen Jahren nichts zu spüren gewesen, vielmehr wurden Zuständigkeiten wieder gekürzt, sagt auch der Sterzinger Politikwissenschaftler und Jurist Matthias Haller, der in einer wissenschaftlichen Arbeit zum Minderheitenschutz nachgewiesen hat, dass Südtirol heute weniger Kompetenzen habe als 1992. „Ein unabhängiges Südtirol könne die heutigen Probleme viel besser lösen als das zentralistische Italien“, glaubt auch der Partschinser Sigmund Baron Kripp und verweist auf Bereiche wie Mobilität, Gesundheit, Sozialwesen, die in Südtiroler Hand nachhaltiger und sozial gerechter gestaltet werden könnten.
Nichts ist fix
In den vergangenen 100 Jahren haben sich die Grenzen in Europa immer wieder verändert, zwar nicht immer auf friedlichem Weg. Ein Vorzeigebeispiel sei dabei die Trennung Tschechiens von der Slowakei – mit einem lapidaren Vertrag ohne Gewaltanwendung. Zum 31. Dezember 1992, Punkt 24 Uhr, hörte der gemeinsame Staat der Tschechen und Slowaken 74 Jahre nach seiner Gründung einfach auf zu existieren. „Warum soll es dann nicht auch möglich sein über Dialog und dem geeinten Volkswillen, Südtirol zu einem unabhängigen Staat zu machen?“, lautet der Tenor von „Kann Südtirol Staat?“.
Es ist normal, dass Menschen ihr Zusammenleben immer wieder neu organisieren, meinen die Autoren. Der Weg zur Unabhängigkeit ist die Selbstbestimmung: Die Mehrheit der Südtiroler Bevölkerung drückt ihren gemeinsamen Willen dazu aus. Um zu diesem gemeinsamen (demokratischen) Willen zu kommen, ist allerdings ein langer gesamtgesellschaftlicher Prozess nötig. Der größte Fehler sei es, die Diskussion zum Thema Selbstbestimmung auf den reinen Akt der Abstimmung zu reduzieren.
Dass ein Kleinstaat Südtirol durchaus gut existieren könne, beweisen erfolgreiche ähnliche kleine Staaten wie Luxemburg, Estland, Lettland oder Litauen. Die mehrsprachige Schweiz wäre das beste Modell, das ein unabhängiger Staat Südtirol anstreben sollte, meinen die Autoren.
Gründung und Übergang
Natürlich muss erst einmal die römische Regierung gewonnen werden, sich auf einen Dialog einzulassen. Sollte diese dazu nicht bereit sein, ist die internationale Gemeinschaft dafür zu gewinnen, Druck auf die Regierung auszuüben. Seit 1945 gab es weltweit über 100 Volksabstimmungen über die Unabhängigkeit. 32 dieser Abstimmungen führten zu unabhängigen Staaten. 18 Staatsgründungen erfolgten nach 1990. Die größte Herausforderung ist es, einen Konfrontationskurs mit dem Zentralstaat zu vermeiden. Besonnenheit und politische Kreativität, die die demokratiepolitischen Möglichkeiten nutzt, seien notwendig und es brauche einen langen Atem auf alle Fälle, darauf verweisen die Experten. Wichtig könne auch ein Wiedervereinigungsverbot mit Österreich sein, „als vertrauensbildende Maßnahme für den italienischen Staat und die italienische Bevölkerung in Südtirol“. Eine gemeinsame Garantiefunktion von Italien und Österreich kann dazu beitragen, die Rechte der einzelnen Sprachgruppen besser zu schützen.
Die Verfassung
Die Verfassung des neuen Staates sollte in einem Bürgerbeteiligungsprozess von einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet und in einem darauffolgenden Referendum legitimiert werden. Ein neuer Staat Südtirol müsste aber auch einen Anteil an den Staatsschulden Italiens (das sind zwischen 23 und 36 Milliarden Euro für Südtirol) übernehmen. Im Gegenzug steht aber auch ein Anteil am Vermögen zu (zwischen 2,8 und 4,3 Milliarden Euro). Mit einer guten Haushaltsdisziplin könnte die Verschuldung im neuen Staat bald wieder abgebaut werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Verbleib in der EU von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht wird. Auch diesbezüglich seien wieder eine Reihe von Verhandlungen notwendig. Auf alle Fälle soll der neue unabhängige Staat Südtirol kein Nationalstaat mit einer vorherrschenden Amtssprache sein, sondern ein mehrsprachiges Land.
Zukunftsvisionen
Die Frage nach der Zukunft Südtirols ist – wenige Wochen vor den anstehenden Landtagswahlen – aktueller denn je. Die Süd-Tiroler Freiheit um Sven Knoll propagiert die Selbstbestimmung als ersten Schritt für eine Rückkehr zu Österreich. Ein zweites Zukunftsmodell ist der Freistaat: Südtirol soll ein souveräner, unabhängiger Staat im Herzen Europas werden, fordern die Freiheitlichen. Das dritte Zukunftsmodell strebt eine Vollautonomie mit größtmöglicher Selbstverwaltung an. Es steht auf der Agenda der SVP.
1984 hat Senator Friedl Volgger seine Zukunftsvision für unser Land formuliert: „Weltoffen und aufgeschlossen sollen wir unsere Kräfte mit denen der anderen Sprachgruppe messen. Unsere Devise für die Zukunft soll heißen: Selbstbewusstsein, Arbeit, Einsatz und nicht nur Selbstbemitleidung. Die Bitternis, die uns die Teilung Tirols gebracht hat, darf uns nicht den Glauben an die Zukunft unseres Landes nehmen. Gemeinsam können wir sie meistern. Ja mehr noch: Wir sollten uns in Tirol die Chance nicht entgehen lassen, im Kleinen das Muster eines zukünftigen Europas zu bauen.“
„Abspaltung ist weder legal noch illegal, sondern eine politische Angelegenheit“,sagt Politikwissenschaftler Matthias Scantamburlo.
Matthias Scantamburlo hat in Innsbruck und Bilbao (Spanien) Politikwissenschaft und Geschichte studiert und lehrt heute an der Universität in Madrid. Ethnische Konflikte, separatistische Bewegungen und Nationalismus interessieren ihn bereits seit der Oberschule. Seine Forschungsschwerpunkte sind territoriale Politik, Parteien und Parteienwettbewerb. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.
Die BAZ sprach mit dem Wissenschaftler über die Möglichkeit eines unabhängigen Staates Südtirol.
Das Projekt „Noiland Südtirol-Sudtirolo“ hat mit dem Buch „Kann Südtirol Staat?“ die Diskussion eines unabhängigen Südtirols neu entfacht. Was hat Sie bewogen da mitzumachen?
Matthias Scantamburlo: Es ging mir darum zu einer informierten und für alle verständlichen Diskussion über Nationen, Nationalismen und Selbstbestimmung aus politikwissenschaftlicher Sicht beizutragen. Die Debatte über diese Themen wird emotional geführt und ist deshalb meistens stark verzerrt. Was Experten und Expertinnen dazu publiziert haben, wird selten berücksichtigt.
Der Ruf nach Eigenstaatlichkeit war bisher doch immer ein Steckenpferd rechter Parteien?
In Südtirol fordern seit den 1980er Jahren rechte Parteien, die ein bestimmtes Bild der Südtiroler Identität vertreten, die Loslösung von Italien. Viele Menschen, die nicht mit diesem Gedankengut sympathisieren, scheuen sich vor Selbstbestimmung. Ein Blick zurück zeigt aber, dass auch die Südtiroler Sozialdemokratie der 1970er Jahre die Autonomie nur als Zwischenschritt zur Selbstbestimmung ansah. Ein vergleichender Blick zeigt, dass Unabhängigkeitsparteien in Europa sich quer über das ganze ideologische Spektrum positionieren. In Schottland, Katalonien, dem Baskenland, Korsika usw. gibt es auch liberale und linke nationalistische Parteien. Interessant ist zudem, dass sich einige von diesen im Laufe der Zeit gewandelt haben. Die heute linke Scottish National Party war in der Vergangenheit weit konservativer. Der baskische Nationalismus hat sich von einem ethnischen und ausgrenzenden zu einem liberalen und inklusiven Nationalismus gewandelt. Warum dies der Fall ist, wird kontrovers diskutiert, es zeigt aber, dass nationale Identität wandelbar ist und mit emanzipatorischem Gedankengut verbunden werden kann. Im Grunde ist Nationalismus jene politische Kraft, welche die Existenz einer nationalen Gemeinschaft und ihr Recht auf einen bestimmten Grad an Souveränität einfordert, unabhängig von rechts und links.
Welche Schritte sind erforderlich, um überhaupt zu einem unabhängigen Staat zu kommen?
Formal gesehen ist das entscheidende Merkmal die Erlangung eines Sitzes in der UN-Generalversammlung. Dafür gibt es ein Anerkennungsverfahren. Dieses liegt in den Händen der einzelnen Staaten. Man muss sich die Staatengemeinschaft wie einen Verein vorstellen, der über die Aufnahme von neuen Mitgliedern entscheidet. Sezession ist deshalb weder legal noch illegal, sondern eine politische Angelegenheit. Um anerkannt zu werden, muss eine nationale Bewegung entweder ihren Zugehörigkeitsstaat davon überzeugen, die Unabhängigkeit zuzulassen oder die internationale Gemeinschaft dazu bewegen sie anzuerkennen. Die Zustimmung des Zugehörigkeitsstaates ist der sicherste Weg zur souveränen Staatlichkeit. Staaten erlauben eine Abspaltung in der Regel, wenn der Verlust des Territoriums den Kern des Staates nicht gefährdet und wenn die Region einen besonderen Verwaltungsstatus hat. Je unterschiedlicher die Region, desto wahrscheinlicher ist Sezession.
Und wenn Italien nicht mitspielt? So ist z. B. die Selbstbestimmung in der italienischen Verfassung nicht vorgesehen und Art. 5 spricht von der Unteilbarkeit der Republik?
Wenn der Staat eine Abspaltung nicht zulässt und man keine internationale Anerkennung erhält, lässt sich kaum etwas tun, außer sich weiterhin dafür einzusetzen. In einer Demokratie sollte aber ein grundsätzlich politisches Problem wie die Herausbildung eines alternativen Staatsprojekts nicht allein mit Rechtsmitteln gelöst werden. Der Rechtsstaat ist ein wesentliches Element liberaler Demokratien. Allerdings ist es ein Armmutszeugnis, die Demokratie auf die Einhaltung von Regeln zu reduzieren. Demokratie ist auch ein Ideal der kollektiven Selbstverwaltung, bei dem politische Entscheidungen auf den Präferenzen der Bürger basieren sollten. Bei einer solchen unbeweglichen Position befinden wir uns vor einem Mehrheitsnationalismus (dem italienischen), der die Einheit der Nation nicht auf dem Konsens seiner Bürger vertritt, sondern auf einer von vornherein gegebenen Legalität. Also ein Nationalismus, der sich vom Konzept der liberalen Nation abwendet und sich in dieser Frage auf einen antidemokratischen Weg begibt. Eine reife Demokratie muss in der Lage sein, eine unbequeme Forderung wie die Abspaltung eines Territoriums zu bewältigen.
Welche konkreten Vorteile hätten wir als Eigenstaat?
Vor allem politische und sozioökonomische. Das Aufkommen verschiedener Unabhängigkeitsprozesse in der EU macht deutlich, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht möglich ist, eine Nation oder eine politische Gemeinschaft ohne Staat zu demokratisieren. Je mehr institutionelle Macht eine politische Gemeinschaft hat, desto mehr politische Kapazität hat sie ihr wirtschaftliches und kulturelles Kapital umzuverteilen und sich als Demokratie zu reproduzieren. Eine Gemeinschaft ohne politische Kapazität und Autorität kann sich nicht nach ihren eigenen Entscheidungen regieren. Südtirol kann dies dank der Autonomie nur zum Teil. Der Vorteil eine eigene Steuer-, Arbeits-, Finanz-, Infrastruktur-, und Bildungspolitik usw. zu gestalten hätte mit großer Wahrscheinlichkeit einen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Bürokratie und Rechtsunsicherheit, die in Italien besonders ausgeprägt sind, könnten abgefedert werden. Die Berechnung eines hypothetischen Staatshaushalts hat einen Überschuss von ca. 600 Millionen Euro jährlich ergeben. Hochwertige Arbeitsplätze im neuen öffentlichen Sektor könnten der Talentabwanderung entgegenwirken.
Würde eine Volksabstimmung denn eine deutliche Mehrheit erhalten?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, da es leider keine Umfragen gibt. Die Brisanz des Themas ist in den letzten Jahren zurückgegangen, aber Sezession kommt in Wellen. Südtirol erfüllt alle strukturellen Bedingungen eine erfolgreiche Unabhängigkeitsbewegung hervorzubringen: Entfernung vom politischen Zentrum, andere Sprache(n) und ökonomisch erfolgreicher als der Zugehörigkeitsstaat. In einem solchen Kontext kann eine Bewegung auch innerhalb von kurzer Zeit entstehen, meistens wenn Autonomie zurückgenommen wird. Potenzielle Befürworter von Unabhängigkeit sind meist höher gebildet, haben eine schwache Parteibindung und lassen sich von den ökonomischen Vorteilen eines Eigenstaates überzeugen. Andererseits muss aber auch gesagt werden, dass in Demokratien sich mit dem Staat geographisch verbundene Regionen äußerst selten abspalten. In den reichen westlichen Demokratien des fortgeschrittenen Kapitalismus hat es bisher noch keine erfolgreiche Sezession gegeben. Der Sprung ins kalte Wasser ist für die meisten doch zu gefährlich.
Führt die Geschichte uns aber nicht immer wieder vor Augen, dass Sezessionsbestrebungen meist nur in Gewalt und zu Spaltung führen und viel Leid über die Menschen bringen?
Territoriale Konflikte sind eine der Hauptursachen für Gewalt und Krieg weltweit. In demokratischen Systemen ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein territorialer Konflikt zu Gewalt führt, allerdings wesentlich geringer. Auch sind Sezessionsbewegungen die Gewalt anwenden im Schnitt weniger erfolgreich als friedliche. Eher sehe ich aber das aktuelle System, wonach Grenzen nicht geändert werden dürfen, und den Widerstand seitens der Staaten als Grund für Gewalt und Instabilität. Mehrheitsfähige Sezessionsbestrebungen entstehen, wenn Staaten unfähig sind nationale Minderheiten als konstituierende Teile des Staates zu vertreten und zu integrieren. Bei einem Legitimitätskonflikt kann ich mir keine bessere Lösung vorstellen als eine Abstimmung abzuhalten, bei der klar wird, wie viele Menschen sich nicht als Teil des existierenden Staates fühlen. Wenn die Gesellschaft zu einem so existentiellen Thema gespalten ist, umso wichtiger ist es ihr ein Mitspracherecht zu geben. Da wo es ein Einvernehmen für eine demokratische Abstimmung gegeben hat, wäre mir keine Gewalt bekannt.
Günther Rautz studierte Rechtswissenschaften sowie Philosophie. Er leitet das Institut für Minderheitenrecht an der Europäischen Akademie Bozen. Neben der Leitung von EU-Menschenrechtsprogrammen in Südasien wirkte er an der Ausarbeitung eines Autonomiestatuts für Tibet im Auftrag der Exilregierung Seiner Heiligkeit, des Dalai Lama mit. 2015 erhielt er für seine wissenschaftliche Abhandlung „Einheit in Vielfalt – Ein europäisches Akkulturationsmodell für das interethnische Zusammenleben im 21. Jahrhundert“ den Bischof Karl-Golser-Preis.
Ein BAZ-Gespräch mit dem Wissenschaftler.
Das Projekt „Noiland Südtirol-Sudtirolo“ hat die Diskussion eines unabhängigen Staates Südtirol neu entfacht. Wie denken Sie darüber?
Günther Rautz: Letztes Jahr haben wir 50 Jahre „Zweites Autonomiestatut“ und 30 Jahre Streitbeilegungserklärung zwischen Österreich und Italien vor der UNO gefeiert. In diesem Gedenkjahr wurde meiner Meinung nach zu Recht darauf hingewiesen, dass die Autonomie und der Schutz aller drei Sprachgruppen inzwischen identitätsbildend sind. Egal ob italienisch-, deutsch- oder ladinischsprachig, die Autonomie kommt allen zugute und ist ein gemeinsamer Auftrag, die Arbeit der letzten 50 Jahre verantwortlich im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens weiterzutragen. Darauf aufbauend wurden Konzepte entwickelt, wie die dynamische Autonomie oder die Vollautonomie bis hin zur differenzierten Autonomie. Schlussendlich geht es darum, die Weichen um die Weiterentwicklung zu stellen. Also weitere Befugnisse sollen auf das Land Südtirol übertragen und bestehende Durchführungsbestimmungen ergänzt und verbessert werden. Im Prinzip geht es um alle Kompetenzen außer Außen-, Verteidigungs- und Währungspolitik, Zivil- und Strafrecht und die Gerichtsbarkeit. Weitergehend sind die Forderungen der Freiheitlichen aus 2012. Da ging es um die Schaffung eines unabhängigen Freistaates, der in Zusammenarbeit mit allen drei Sprachgruppen verwirklicht werden sollte. Mit „Noiland Südtirol-Sudtirolo“ gibt es nun erstmals eine profunde wissenschaftliche Arbeit in Buchform als Diskussionsgrundlage zu diesem Szenarium. Und um das Gesamtbild abzurunden, der Südtiroler Heimatbund und nahestehende Parteien fordern hingegen die externe Selbstbestimmung und die Rückkehr zu Österreich.
Ist das nicht Scharfmacherei, ein Angriff auf die Autonomie und die Einheit des Staates?
Das Projekt „Noiland Südtirol-Sudtirolo“ selbst sicher nicht. Die Autoren des Buches „Kann Südtirol Staat?“ zeigen nur detailliert die Chancen, Risiken, Voraussetzungen und möglichen Strategien in allen Facetten auf, was es bedeuten würde, die Idee eines unabhängigen Staates Südtirol umzusetzen. Insofern bleibt es eine wissenschaftliche Abhandlung und ich habe nicht den Eindruck, dass die Autoren selbst das Buch als Grundlage für eine neue politische Bewegung sehen, die diese Ziele in die Praxis umsetzen möchte. Denn wenn nicht jetzt so kurz vor den nächsten Landtagswahlen, wann dann? Außerdem habe ich den Eindruck, dass das Buch zwar auf großes Interesse in den Medien und in der Bevölkerung gestoßen ist, von politischer Seite wurde es aber kaum aufgegriffen. Daher kann ich keine Scharfmacherei oder einen Angriff auf die Autonomie oder Staatseinheit sehen.
Ein Dutzend Autoren kommen in ihren Studien zum Schluss, ein Freistaat Südtirol würde nur Vorteile mit sich bringen. Stimmen Sie dem zu?
Die Antwort des Juristen ist, es hängt davon ab. In der Theorie kann man wohl den Hypothesen und Schlussfolgerungen der Autoren etwas abgewinnen. In der Praxis gebe es aber allzu viele unvorhersehbare Variablen, Reaktionen oder Hürden, die derzeit überhaupt nicht absehbar sind, und auf die man sich immer wieder neu einstellen müsste. Sie haben diesen Sommer sicher auch den Film „Oppenheimer“, über den Vater der Atombombe, gesehen. Robert Oppenheimer war Leiter des Manhattan-Projekts, um im US-Bundesstaat New Mexico in der Stadt Los Alamos abgeschieden gemeinsam mit den damals besten Wissenschaftlern an der Entwicklung einer Atombombe zu arbeiten und sie dann in einem Laborversuch auszuprobieren.
Leider wird man eine Unabhängigkeit Südtirols nie theoretisch unter idealen Laborbedingungen durchspielen können. Es bleibt immer ein Restrisiko und die Gefahr – wie der Film „Oppenheimer“ bei der Atombombe anschaulich zeigt – was die Politik dann aus den besten Absichten der Wissenschaftler und deren wohlgemeinten Forschungsergebnissen in der Praxis macht.
Würde eine Volksabstimmung denn eine deutliche Mehrheit dafür erhalten?
Darüber kann man nur spekulieren und hängt wiederum von vielen Faktoren ab, die man nur zum Teil beeinflussen kann. Ein konkretes Beispiel in Europa ist das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich, das am 18. September 2014 stattfand. Das Ergebnis betrug 55,3 % Nein-Stimmen und 44,7 % Ja-Stimmen, wodurch die Unabhängigkeit Schottlands mehrheitlich abgelehnt wurde. Nach der Entscheidung der britischen Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union würde ein Referendum in Schottland sehr wahrscheinlich anders ausgehen. Auch im Falle Südtirols wäre Vieles unberechenbar und keine „gmahde Wiesen“ weder für die Befürworter noch Gegner der Unabhängigkeit.
Führt die Geschichte uns nicht immer wieder vor Augen, dass Sezessionsbestrebungen meist nur zu Gewalt und Spaltung führen und viel Leid über die Menschen bringen?
Das muss nicht sein! Die Autoren des Buches „Kann Südtirol Staat?“ zählen eine Reihe von Unabhängigkeitsreferenden auf, die auch positiv ausgegangen sind und woraufhin in weiterer Folge neue Staaten entstanden sind. Auch die Teilung der Tschechoslowakei in zwei Staaten wird als „samtige Scheidung“ im Buch bezeichnet. Aber natürlich haben Sie Recht, wenn man auf die Auflösung der Sowjetunion oder an den kriegerischen Zerfall von Jugoslawien denkt.