Andreas Stoll wurde am 22. November 1935 am Oberrieplerhof in Taisten als neuntes von elf Kindern geboren. Nach Abschluss der Volksschule besuchte der zielstrebige Bub einen einjährigen Vorbereitungskurs für die Abschlussprüfung der Mittelschule, dann die Lehrerbildungsanstalt in Meran und schloss sie 1955 mit der Lehrbefähigungsmatura ab. Anschließend war er drei Jahre Volksschullehrer (Geiselsberg, Deutschnofen und Telfes). 1959 holte er als Privatist in Meran die Matura des Humanistischen Gymnasiums nach, denn erst mit dieser Matura konnte er an der Universität Innsbruck die Fächer studieren, die ihn besonders interessierten, nämlich Philosophie, Pädagogik und Psychologie. In seiner Dissertation bei Prof. Wolfgang Brezinka befasste er sich mit der „Geschichte der Lehrerbildung in Tirol“. Die Arbeit erschien im Druck und erfuhr überaus positive Rezensionen.
Nach Abschluss des Studiums unterrichtete Andreas im Schuljahr 1965/66 literarische Fächer an der Mittelschule Lana. 1966 erhielt er einen Lehrauftrag für Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der LBA Meran. Er brachte somit das Kunststück fertig, in allen drei Schulstufen unterrichtet zu haben. Nachdem er zwei Jahre die Frauenoberschule in Meran geleitet hatte, kehrte er 1979 als Lehrer an die LBA zurück. 1984 übernahm er – auf Wunsch und Drängen der Kollegen – die Direktion und hatte sie 18 Jahre inne.
Die Schüler schätzten an seinem Unterricht die gewissenhafte Vorbereitung und Planung, die klare, übersichtliche Vermittlung des Stoffes und den freundlichen, korrekten Umgang mit ihnen.
Beeindruckend war die große Kompetenz des Direktors Stoll. Die gesetzlichen Bestimmungen im Schulbereich kannte er wie seine Westentasche, jede Frage konnte er präzise und erschöpfend beantworten. Immer war er bestrebt, die Schulgemeinschaft umfassend zu informieren und in Entscheidungen einzubinden. Ein wahrer Meister war er, wenn es galt, Kriterien zu formulieren, Vordrucke zu erstellen oder Begründungen zu schreiben. Sein Rat wurde nicht selten auch von Direktorenkollegen eingeholt.
Bewundernswert war sein Arbeitseifer. Andreas kannte keinen Dienst nach Vorschrift, sondern tat an seinem Arbeitsplatz immer weit mehr, als die Vorschrift verlangte. Er setzte sich voll für den gesamten Schulbetrieb ein, sorgte für eine zeitgemäße Ausstattung der Schule, trieb die umfassende Sanierung des Schulgebäudes energisch voran und legte dabei großen Wert darauf, dass die Wünsche und Vorstellungen der Schulgemeinschaft in die Planungen einbezogen wurden. Er „kopfte“ und probierte oft Stunden, ja halbe Nächte herum, wenn es zum Beispiel galt, den Stundenplan für Schüler oder Lehrer zu verbessern.
Ausgewogenheit war ein weiteres Charaktermerkmal des Direktors: Er fühlte sich dem Altbewährten verpflichtet, war aber auch Neuem gegenüber sehr aufgeschlossen, ja ein Vordenker und auch ein Vorarbeiter. Das zeigte sich bei der Einführung des großen Schulversuchs „Fünfjährige Lehrerbildungsanstalt“ (1986/87), bei der Umwandlung der LBA in ein „Pädagogisches Gymnasium“ (1998/99) oder beim Projekt „Autonomie der Schulen“. Er förderte alle von der Schulgemeinschaft ausgegangenen Initiativen und war immer bestrebt, die Qualität der Schule zu verbessern, Mängel soweit wie möglich zu beseitigen oder wenigstens zu verringern. „Tagtäglich hinhören, wo die Mängel liegen und wo den einen oder den anderen der Schuh drückt“, war seine Devise. Schließlich schätzten alle seine einfühlsame Art, mit Menschen umzugehen. Er teilte Freud und Leid mit der Schulgemeinschaft, nahm Lehrer, Schüler, Eltern, Mitarbeiter in der Verwaltung und im Wartungsdienst gleichermaßen ernst, behandelte sie stets freundlich und korrekt, verlor nie die Geduld und trug nichts nach. Andreas diktierte nicht, vielmehr wollte er andere überzeugen von der Meinung, die er selbst vertrat, und von dem, was er verlangen musste. Von jeder und jedem an der Schule hatte er ein positives Bild und motivierte sie dadurch, diesem Bild zu entsprechen. Als ich einmal im Unterricht die lateinische Redewendung „fortiter in re, suaviter in modo“ erklärte (zielstrebig, konsequent, überzeugt in der Sache, angenehm, entgegenkommend, gewinnend in der Form), bemerkte ein Schüler spontan: „So ist unser Direktor!“
Dass Direktor Stoll wesentlich zu einer guten, familiären Schulatmosphäre beigetragen hat, kann man ihm nicht hoch genug anrechnen.
Über die Unterrichtstätigkeit bzw. Schulleitung hinaus setzte sich Andreas Stoll für Schule und Bildung ein und gestaltete das Südtiroler Schulwesen maßgeblich mit – durch Anregungen und Stellungnahmen sowie durch die führende Mitarbeit in Arbeitsgruppen, Kommissionen und Gremien (Aufbau des Pädagogischen Instituts, Studienpläne, Berufsbild der Lehrer …). In den 1970er Jahren wirkte er am Aufbau und an der Arbeit eines sogenannten Zweiten Bildungsweges mit, der es Erwachsenen ermöglichte, neben ihrem Beruf eine Matura nachzuholen.
Auch nach seiner Pensionierung 2002 interessierte er sich für das Schulwesen im Allgemeinen und für „seine“ Schule im Besonderen und blieb ihr verbunden. In Algund, wo er seit 1977 mit seiner Familie wohnte, war er 25 Jahre lang Vorsitzender des Bibliotheksrates der Öffentlichen Bibliothek. Auch gründete er einen Schachklub und leitete ihn jahrelang. 17 Jahre gehörte er dem Verwaltungsrat des Südtiroler Kinderdorfes an, davon 12 Jahre als Obmannstellvertreter. Für sein verdienstvolles Wirken wurde Andreas Stoll mehrfach geehrt: von „seiner“ Schulgemeinschaft mit einer Abschiedsfeier und einer ganz besonderen Festschrift, mit dem Verdienstkreuz des Landes Tirol, mit der Verdienstmedaille der Gemeinde Algund und mit dem silbernen Kinderdorfabzeichen.
Was bleibt von Direktor Andreas Stoll? Es bleibt die dankbare Erinnerung an einen großartigen Menschen, der seine guten Fähigkeiten entfaltet und für Familie, Schule und Bildung eingesetzt hat.
Sepp Pircher