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Die Mutter der Gemeinde

Dass Straßen neue Namen erhalten, kommt nicht alle Tage vor. Und noch seltener ist es auch heute noch, dass ein Weg nach einer Frau benannt wird. Umso wichtiger ist der 28. Dezember 2021. An jenem Tag hatte der Gemeinderat von St. Martin in Passeier beschlossen, einen Weg nach Rosa Lorenz zu benennen.
Eine Rückschau im Jänner 1952 auf das vorangegangene Jahr offenbart Interessantes. Die Imker seien nicht voll auf ihre Rechnung gekommen, denn der Ertrag war trotz ihres Fleißes nur sehr mäßig gewesen. Besser lief es in der Landwirtschaft. Obwohl man große Lawinenschäden befürchtet hatte, wurde es zu einem gesegneten Jahr und die Bauern konnten zufrieden mit ihm sein. Neben 23 Todesfällen und zehn Eheschließungen verzeichneten die Kirchenbücher von St. Martin insgesamt 83 Geburten. Eine durchaus ansehnliche Zahl, die die Toten um ein Vielfaches übertraf. Der Grund ist aber nicht in der Biologie der Mårtiner Bevölkerung zu suchen, sondern vielmehr dem guten Ruf ihrer Hebamme Rosa Lorenz zu verdanken. Denn ein Teil der Geburten ist auf auswärtige Mütter zurückzuführen, die eigens für die Niederkunft hierherkamen. Als Rosa Lorenz ihren 70. Geburtstag und zugleich ihr 40. Berufsjubiläum gefeiert hat, kam es zur Erstaufführung eines besonderen musikalischen Werkes. Der Schriftsteller Hans Matscher hatte ein Hebammenlied gedichtet, das von Gemeindearzt Emil Sailer vertont und ihr gewidmet worden war. Bei der Aufführung durch den Kirchenchor war der halbe Ort auf den Beinen, um in das große Lob auf die geschätzte Jubilarin einzustimmen.

Eine Frau der Tat
Rosina Magdalena Lorenz wurde am 2. Juni 1883 in St. Martin als Tochter des Maurers Anton und seiner Ehefrau Maria Traugott geboren. Sie wuchs am Muller Hof auf und war deshalb als „Mull Rouse“ bekannt. Im Alter von 34 Jahren heiratete sie zum ersten Mal. Seit 1912 arbeitete sie bereits als Hebamme. Ihr Bräutigam Josef Spinell war Sagschneider und lebte nach der Hochzeit mit ihr im Straußenhaus. Doch die Jahre waren nicht immer einfach. Es kamen vier Kinder auf die Welt. Ausgerechnet ihre gleichnamige Tochter starb als Säugling und Josef folgte dieser wenig darauf. 1926 verehelichte sie sich erneut und ihr zweiter Mann Alois Gufler zog zu ihr. Die gemeinsame Tochter, ebenfalls Rosa genannt, überlebte die Geburt auf tragische Weise nicht. Dabei hatte sie so vielen Frauen geholfen. Am Ende ihres Arbeitslebens waren es etwa 2.000 Geburten, bei denen sie für das Wohl von Mutter und Kind gesorgt hatte. Oft kamen die Frauen zum Entbinden zu ihr nach Hause, wo sie auch bleiben durften, wenn es nötig war. Rosa Lorenz wurde als fromme und resolute Frau beschrieben. Bei unehelichen Kindern zum Beispiel sorgte sie dafür, dass diese getauft wurden und kümmerte sich persönlich um die Suche nach Paten für sie. Konnten sie die Mütter nicht selbst aufziehen, suchte sie Pflegeeltern. Am 14. September 1964 verstarb sie im Alter von 81 Jahren.

Eine wohlverdiente Ehrung
Zur Feier ihres 70. Geburtstages hatte sich gezeigt, dass Rosa sowohl körperlich als auch geistig noch sehr fit war. Nur die Füße machten ihr zu schaffen. So forderten einige Wohlgesonnene, der Staat möge ihr doch eine Ehrenpension gewähren, zumal ihr kein gesetzlicher Anspruch zustand. Der Grund für die schwachen Füße lag schließlich in ihrem selbstlosen Arbeitseifer. Ohne Schonung des eigenen Lebens scheute sie auch steile, schmale und oft lebensgefährliche Pfade nicht, weder bei Tag noch bei Nacht, weder bei Hitze noch bei Kälte. Es war der Ortspfarrer Stephan Pamer, der darauf hinwies, wenn der Bürgermeister eines Ortes als „Vater der Gemeinde“ zu bezeichnen sei, müsse ihr als unermüdliche Geburtshelferin wohl der Titel „Mutter der Gemeinde“ gebühren. Die Gemeinde St. Martin würdigte das Lebenswerk der tatkräftigen und sozial engagierten Hebamme, die weitum einen ausgezeichneten Ruf genoss, 2021 mit der Straßenwidmung im Beisein von drei Generationen ihrer Nachkommen.
Christian Zelger